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Der Doppelganger

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Als der Zug in Loncastle einlief, vernahm man die vertrauten Klänge des Waliser Militärmarsches „All about the king“. Bill Morton sah neugierig aus dem Abteilfenster und erblickte auf dem Bahnsteig eine lärmende Menschenmenge. Wir haben bestimmt eine Filmdiva im Zug, dachte er verächtlich, entnahm dem Gepäcknetz seine Vertretermappe und den Koffer mit dem Staubsauger und verließ den Wagen. Doch bevor er sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnen konnte, stürzten einige befrackte Herren auf ihn zu und hielten ihn fest. Die Kapelle spielte einen Tusch, Blitzlichter grellten auf, und ein junges Mädchen überreichte Morton einen prächtigen Strauß weißer Nelken.

„Diese Freude“, rief ein beleibter Herr, der sich als Bürgermeister von Loncastle vorstellte. „Herzlich willkommen in der Heimatstadt!“ Morton wußte nicht, wie ihm geschah. „Aber ich bin es doch gar nicht!“ stammelte er. „Sie sind geistreich wie immer“, entgegnete der Bürgermeister lachend und wies mit großer Geste auf ein Plakat, das die Inschrift trug: „Unserem großen Dichter G. B. Reading.“

Dieser Reading muß mein Doppelgänger sein! — durchfuhr es Bill Morton, der von Dichtern und Dichtung nicht die geringste Ahnung hatte und nur widerwillig in einer vornehmen Limousine Platz nahm. „Gefällt es Ihnen?“ fragte der Bürgermeister, der neben ihm im Wagen saß. „Ja“, erwiderte Morton humorlos und dachte daran, daß er in dieser Stadt keinen einzigen Staubsauger verkaufen würde, „aber ich bin kein Dichter.“

„Ich bitte Sie!“ entrüstete sich der Bürgermeister, „Sie sind zu bescheiden!“ Als der Wagen vor dem Hotel hielt, beschloß Morton der Komödie ein Ende zu machen. „Ich heiße Bill Morton“, sagte er zu den

Journalisten, die sich auf ihn stürzten. „Ein großartiges Pseudonym!“ erwiderte ein junger Mann schlagfertig. „Haben Sie unter diesem Namen schon etwas veröffentlicht?“ — „Nein“, entgegnete der Staubsaugervertreter hilflos; dann ließ er sich vom Bürgermeister in die Hotelhalle bringen, wo ihn die Honoratioren der Stadt an einer festlich gedeckten Tafel erwarteten. Nachdem er einige langatmige Reden über sich hatte ergehen lassen müssen, stand er, einen letzten Versuch unternehmend, auf und sagte: „Meine Damen und Herren! Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß ich in meinem ganzen Leben noch keinen Roman zu Ende gelesen, noch viel weniger einen geschrieben habe. Ich bin nicht in diese Stadt gekommen, um gefeiert zu werden, sondern um Staubsauger zu verkaufen!“

„Wunderbar!“ schrien einige hysterische Damen begeistert.

„Diese herrlichen verrückten Einfälle! Er ist doch ganz der Alte geblieben!“ — „Verkauft Bobby Romfort, der Held Ihres Romans ,Das Haus Nr. 13‘ nicht auch Staubsauger?!“ fragte der Bürgermeister, der vor Lachen fast keine Luft mehr bekam.

„Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen“, bat Morton weinerlich, „dann kaufen Sie mir einen Luxor-Staubsauger ab. Er ist der beste und modernste Staubsauger auf dem Markt! und spottbillig!“

„Sie haben einen köstlichen Humor“, schrie der Bürgermeister und riß einen Füllfederhalter aus der Tasche, um sich in Mortons Bestellblock einzutragen. „Wenn Sie den Block dann weitergeben würden…?!“ meinte Morton, der plötzlich seine große Chance erkannte. „Die Bestellscheine sind schon mit meiner Unterschrift versehen. Bitte, tragen Sie nur Ihren Namen und die Anschrift ein. Die Lieferzeit beträgt 14 Tage!“

Dann ließ er sich vom Oberkellner seinen Musterkoffer bringen und führte unter dem Jubel der Anwesenden seinen Staubsauger vor. Da jeder von dem berühmten G. B. Reading einen Staubsauger mit einem Bestellschein-Autogramm erwerben wollte, wurde es für Bill Morton ein Bombenerfolg, für Loncastle aber der stimmungsvollste Abend, den die Stadt seit langem erlebt hatte.

Als das Fest auf dem Höhepunkt angelangt war, hielt Morton den Zeitpunkt der Abreise dringend für gekommen. Am Bahnhof, zu dem man ihn schweren Herzens brachte, gab es einen rührenden Abschied. Die Honoratioren begleiteten ihn persönlich in sein Abteil, durchs Fenster wurden ihm Blumen zugeworfen, und der Bürgermeister überreichte ihm unter den Klängen eines schneidigen Marsches einen großen silbernen Pokal als Abschiedsgeschenk.

Gerade als sich der Zug in Bewegung setzte und die versammelten, meist recht runden, Spitzen der Stadt mit erhobenen Hüten zum letzten Gruß an den Dahinscheidenden ansetzten, lief auf dem gegenüberliegenden Gleis der Gegenzug aus London ein. Morton blickte hinüber und entdeckte zu seinem Entsetzen am Fenster eines Abteils zweiter Klasse einen Herrn, der, wenn nicht alles täuschte, sein Doppelgänger — also der wirkliche Dichter G. B. Reading war… Dann glitt der Zug aus der Bahnhofshalle und allmählich versank Loncastle hinter zarten Hügeln in der Ferne. Morton lehnte sich zurück. In seiner Tasche hatte er den größten Staubsaugerauftrag seines Lebens.

Am nächsten Morgen las Bill Morton in der „Times“ einen Artikel mit der Schlagzeile: „G. B. Reading verkauft Staubsauger in seiner Heimatstadt“, und darunter fand er, klein, eine Notiz über die vorübergehende Festnahme eines Hochstaplers, der sich als der berühmte Dichter ausgegeben habe.

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