DIE SCHRIFTSTELLERIN UND DAS MEER

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FRANZÖSISCH-INDOCHINA, PARIS UND IMMER WIEDER DAS MEER: JENS ROSTECK ERZÄHLT DAS LEBEN VON MARGUERITE DURAS.

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FRANZÖSISCH-INDOCHINA, PARIS UND IMMER WIEDER DAS MEER: JENS ROSTECK ERZÄHLT DAS LEBEN VON MARGUERITE DURAS.

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Trouville an der französischen Ärmelkanalküste: Die Brandung rollt über die Endlosstrände des mondänen Seebades, der Wind hebt Drachen zum Tanz. Am Ende der Grande Plage steht ein mächtiges Gebäude: Roches Noires, 1866 als Hotel erbaut. Claude Monet hat es in sein flirrendes Farbspektrum getaucht, Marcel Proust hier logiert. Und dann, in den 1960ern, kam Marguerite Duras, kaufte sich im stillgelegten Grandhotel ein Apartment und verbrachte bis 1994 jeden Sommer hier.

Die Schriftstellerin und der Ozean: Diese Geschichte erzählt Jens Rosteck in "Marguerite Duras. Die Schwester der Meere". Der Musikwissenschafter, Pianist und Kulturhistoriker hat zahlreiche literarische Biografien und Essays zur Musik-und Literaturgeschichte verfasst. Als Einstimmung in die motivisch-biografische Spurensuche wählt er den Sommer 1980, eine Saison, die Marguerite Duras für die Libération protokollierte. "Die Bühne vor ihrer Zimmerflucht inspiriert sie zu Abschweifungen ins Fiktive. Ihre Berichterstattung ist dabei genau so, wie man es von ihr erwartet: ungewöhnlich, unbequem und radikal einseitig."

Besonders fasziniert sie die "behutsame Annäherung zwischen einem kleinen Jungen und seiner halbwüchsigen Betreuerin". Erfahrung und Fantasie verschmelzen zur Geschichte einer aussichtslosen Liebe. - Eine ebenso unmögliche, ungeheure Liebe begegnet der Schreibenden in Gestalt von Yann Andréa Lemée. Der Bretone, 27 Jahre, homosexuell, verehrt die Autorin und Filmerin seit Langem. 1980 lädt sie ihn ein, und er weicht "bis zu ihrem Tode im März 1996 nicht mehr von ihrer Seite". Duras beutet Yann emotional aus, überhöht ihn literarisch. Er ist Projektionsfläche, Co-Autor und Protagonist zugleich. Und ihr "Atlantikmann", mit dem sie endlos am und über das Meer meditiert. Mit ihm beginnt das letzte Meereskapitel im Leben und Werk der Marguerite Duras. Von diesem Wendepunkt aus rollt Jens Rosteck die Biografie der Autorin entlang der maritimen Erfahrungen und Koordinaten auf, die ihr Schaffen so tiefgreifend prägten.

Privilegiertes Kolonialleben

1914 in Französisch-Indochina als Marguerite Donnadieu geboren, lernt die Tochter sendungsbewusster Pädagogen zunächst die privilegierten Seiten des Koloniallebens kennen. Ihr Vater stammt aus der südwestfranzösischen Gemeinde Duras (mit der Wahl des Ortsnamen als Künstlernamen wird sie sich später in Frankreich einwurzeln). Die Stationen des Lehrerpaars sind Saigon, Hanoi -und Phnom Penh, wo man ihnen, so Rosteck, "den maroden [ ], von seiner längst verflossenen Ära kündenden kambodschanischen Königspalast als Dienstgebäude zur Verfügung stellte." Marguerite hat zwei Brüder: Pierre, trieb-und dandyhaft, bleibt ganz "Franzose"(wie seine Mutter, die ihn vergöttert); der zartbesaitete Paul und der Wildfang Marguerite hingegen spielen mit Einheimischen, durchschwimmen Seitenarme des Mekong, leben die Tropen mit allen Sinnen und Poren -"eine sprachlich oder rational nicht zu bändigende Reizüberflutung", urteilt der Biograf. Was den Kindern ein Abenteuer-Paradies ist, wird älteren Kolonialfranzosen zur Qual: Das schwüle Klima, die Insektenplage, verseuchtes Wasser und Krankheiten lassen sie zu Alkohol und Opium greifen. Zugleich fühlen sie -bei allem kolonialen Chauvinismus -eine schleichende Entfremdung von der Heimat.

Patriarchale Welt

Auch Vater Donnadieu ist anfällig für Tropenkrankheiten. Er kuriert sie in Frankreich aus und stirbt 1921 in Duras. Die Mutter tritt einen Posten im Mekong-Delta an. Als die Erbschaft einlangt, kauft sie Küstenland, baut einen Bungalow, träumt vom Großgrundbesitz. Das Terrain ist wertlos. Statt üppiger Reisernten nur Schlamm, Insekten und zerstörerische Flut. Der Damm, den sie mit dem letzten Notgroschen baut, bricht. Der Überlebenskampf der Witwe lässt die patriarchale Kolonialwelt kalt -ein Lehrstück für die Kinder. Erst im Alter würdigt die Autorin ihre (1949 nach Frankreich heimgekehrte) Mutter -und setzt sie mit dem Meer als Urgewalt in eins. Marguerite besucht dann das Lycée in Saigon; an Wochenenden pendelt sie mit Fähren durchs Mekong-Delta "heim ins Elend". Ein reales Fährenerlebnis, ihre Begegnung mit dem reichen, eleganten Chinesen, mythisiert sie 1985 im Weltbestseller "Der Liebhaber". Der Chinese gehört zu dem kolonialen Personal, das so stetig wiederkehrt wie das Meer. Es ist Schauplatz all der unmöglichen Lieben, um die ihr Werk kreist, und es ist auch in Titeln allgegenwärtig: "Ein Damm gegen den Pazifik","Heiße Küste","Der Matrose von Gibraltar","Der Atlantikmann"

Atmosphärisch dicht und kritisch führt uns der Biograf Marguerite Duras als ein Geschöpf der Tropen, der Randmeere des Pazifik -und des Kolonialismus - vor Augen. Etwas zu ausladend gerät der Abschnitt über Marguerites erwachende Sexualität. Breiten Raum bekommt auch ihre Wandlung von der Quasi-Vietnamesin zur einflussreichen Pariser Autorin: Studium, Arbeit im Kolonialministerium, Résistance, Liebschaften, Ehen, Mutterschaft, Schriftstellerei. "Die Schamlosen" lautet der Titel ihres literarischen Debüts 1943. "Bewusste Schamlosigkeit und Tabuverletzung" durchziehen ihre Bücher und Filme, gepaart mit krudem Realismus, Narzissmus, Selbstentblößung und mystifizierender Pornografie. Ein Stil, so maßlos wie das Leben von Marguerite Duras, die trotz Alkoholexzessen und äußerer Verwahrlosung ihren scharfen Geist bewahrte und rasend weiterschrieb -bis zuletzt. Ihr Resümee: "Das Meer betrachten heißt alles sehen."

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