Zu lieben und fürchten

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In ihren erstmals übersetzten "Heften aus Kriegszeiten" ist die französische Schriftstellerin Marguerite Duras neu zu entdecken.

Die vier kleinen, handbeschriebenen Schulhefte, die 1995 - ein Jahr vor Marguerite Duras' Tod - gemeinsam mit dem gesamten Nachlass der französischen Schriftstellerin ins Institut Mémoires de l'édition contemporaine gelangten, waren in einem Umschlag aufbewahrt, den Duras selbst mit "Hefte aus Kriegszeiten" beschriftet hatte. Duras hatte sie über Jahrzehnte aufbewahrt. Aus ihrem übrigen Nachlass fielen sie heraus - durch ihre Konsistenz, ihre thematische Zusammengehörigkeit und die zeitliche Einheit ihrer Entstehung. Es handelt sich um Duras' Aufzeichnungen aus der Zeit zwischen 1943 bis 1949, also aus einer sehr frühen Phase ihres Schreibens - viele Jahre, bevor die in Indochina aufgewachsene Französin mit Romanen wie "Der Matrose von Gibraltar" (1952), "Der Liebhaber" (1984) oder "Der Schmerz" (1985) als Autorin zu Weltruhm gelangte.

Echoraum ihres Werkes

In Frankreich erschienen die "Hefte aus Kriegszeiten" im Vorjahr. Nun folgt die deutsche Übersetzung; wie das Original von den beiden Herausgebern Sophie Bogaert und Olivier Corpet aufs sorgfältigste kommentiert, eingeleitet und mit erklärenden Stichwort- und Personenregistern versehen. Durch das umsichtige Editieren entsteht ein besonderer Mehrwert: Er erlaubt die Verortung dieser frühen Texte im späteren Werk von Marguerite Duras, zeigt, wie sehr Figuren, Themen und Motive von Text zu Text wandern und kreisen und über die Zeit erneut und in verwandelter Form wieder auftauchen. Als Gesamtheit lassen sich die vier "Hefte aus Kriegszeiten" - um ein Wort der Herausgeber aufzugreifen - als "Echoraum" zu Duras' Werk begreifen. In ihnen ist bereits angelegt, woraus später Duras' vollständig unverwechselbare Tonalität als Schriftstellerin entsteht. Die vier Hefte sind eine ungeheuer aufregende Lektüre - sowohl für Duras-Kenner, die darin auf vertraute Stimmen, Bilder und Sujets stoßen und gleichzeitig doch (zum allergrößten Teil) erstmals veröffentlichtes Material vor sich haben, als auch für Duras-Einsteiger, die sich anhand dieses dichten Panoptikums mit ihrem Schreiben vertraut machen können.

Es ist bekannt, wie sehr Duras Autobiografisches zum Material ihrer Literatur machte. In den "Heften aus Kriegszeiten" tauchen die Motive, die sie daraus bezieht, bereits aufs Deutlichste auf: die Liebe und ihr Erlöschen, der Tod und die Langeweile, die erotisch aufgeladene Schwüle der Tropen, die Grausamkeit.

Lange Passagen beschäftigen sich mit Duras' Kindheit und Jugend in Indochina. Da ist das hochneurotische, gewaltgeprägte, vaterlose Hassliebe-Gefüge ihrer Familie - Mutter, zwei Brüder und Marguerite, die Jüngste, selbst - untereinander verstrickt in verbale und emotionale Missbrauchsbeziehungen und nach außen verzweifelt versucht, den Anforderungen einer weißen, französischen Kolonialgesellschaft an Wohlverhalten und Wohlstand zu entsprechen. Da ist auch schon die skandalumwitterte Beziehung der blutjungen Marguerite zu jenem reichen, jungen Vietnamesen, aus dem Duras später ihren berühmtesten Roman "Der Liebhaber" machen wird. In den "Heften" heißt dieser Mann Léo, ein dummer, unattraktiver Mensch, von Marguerites ärmlicher Familie verachtet und ausgenutzt, von ihr selbst als armseliges Machtinstrument gegenüber den Ihren eingesetzt. Später, im "Liebhaber", wird er eine weniger armselige, erotisch sehr viel stärker besetzte Figur sein.

Stilisiertes Schreiben

Neben ihrer Kindheit protokolliert Duras auch die Kriegszeit - ihre Mitarbeit in der Résistance, die in beinah unerträgliche Folterszenen an Nazi-Kollaborateuren kippt, und vor allem das qualvolle Warten auf ihren als Widerstandskämpfer ins KZ deportierten Ehemann Robert Antelme (das später zum Roman "Der Schmerz" wird): "Es gibt mich nicht mehr neben diesem Warten." In der Beschreibung dieses Wartens zeigt sich Duras' ganze Kunst, nämlich die halluzinatorische, schmerzvolle Dichte ihres im Ton so distanzierten, hoch stilisierten Schreibens. Beunruhigend, fesselnd, mitunter erschreckend, dann wieder tief poetisch in ihren Alltagsszenerien: In den "Heften aus Kriegszeiten" ist alles, was an Duras zu lieben und zu fürchten ist, enthalten.

Hefte aus Kriegszeiten

Von Marguerite Duras. Hg. v. Sophie Bogaert u. Olivier Corpet. Aus d. Franz. v. Anne Weber. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2007. 397 S., geb., € 25,50

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