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Ein Schluck Erde

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Der schöpferische Zufall, der ja ohnehin das bestimmt, was wir „Theaterleben“ nennen, wollte, daß ich einen Tag nach der Uraufführung von Heinrich Bolls „Ein Schluck Erde“ im Düsseldorfer Schauspielhaus Samuel Becketts „Glückliche Tage“ (mit Maria Wimmer als Winnie, von Intendant Stroux inszeniert zur Eröffnung des Studios „Tribüne“) sehen konnte. Beide, Boll und Becke, projizieren ihr Zeitbild in die Zukunft. Beide leuchte das Makabre unserer Situation grell an. Boll installiert eine Hoffnung, Becke nicht. — „Barme — Kres — barme — Kres...“, heißt es einmal bei Boll. „Kres“ steht für „Christus“, die „Kresten“ sind in seiner Rangordnung einer Menschheit nach der Katastrophe (atomar oder wie auch immer) die Untersten, Farblosen, Leidenden. Dräs, ein alter Krest mit nahezu priesterlichen Funktionen, verheißt am Ende die „oberste Möge“, das Reich des Herrn — man könnte auch sagen: das Reich Zion. Mes-sianische und pantheistische Ideen spuken in dieser merkwürdigen Heilsvorstelluhg, die im Stil Richard Wagners, in einer altertümelnden, teils aber auch an den derzeitigen Halbstarkenjargon erinnernden Kunstsprache, vorgettagen wird. Boll doziert Weltanschauung.

Seine Therapie gegen den Wissenschaftskult, gegen eine ausschließlich rationalistische Denkweise, kulminiert in folgenden Begriffen: Erde und Feuer (der „Sonnenatem“), Möge und Mahne, Essen und Lust (das ist das Spiel), „Barme Kres“ (das ist die Bitte um Erbarmen). Er parodiert — mit Seitenblick auf Heidegger und Spengler — das „Nichtsda im All“. Er übt Zeitkritik: an der Stammelsprache der modernen Werbung, an der „Anbetung des Essens“, der materialistischen Lebensart überhaupt. „Ahnung und Dunkel“, geheimnisvolles Wissen werden dagegenge-setzt. — Boll sucht Lebenshilfe zu geben. Lebenshilfe auf dem Theater ist fragwürdig. Sie entwertet die Allegorie, weil •'ne Kunst, die dem Leben helfen will, diesem die Priorität zuerkennt, während die Allegorie zu deuten sucht, was über menschliches Begreifen geht, und damit auch über jene Existenz, die der Mensch nach dem Grad seiner Erkenntnis auszufüllen fähig ist. Die allegorische Szene zeigt eine aus Pontons zusammengefügte künstliche Insel. Laut Textbuch hat man „links und vorne offenes Wasser“ anzunehmen, und man hört „das Geräusch einer stetigen, nicht allzu heftigen Brandung“. Das erinnert an Ionescos „Stühle“. Die apokalyptischen Bilder gleichen sich. Daß Boll die Erfahrung der Diktatur mit hineinnimmt, ist — als deutsche Spielart — verständlich. Ein tyrannisches Regime, das unablässig Disziplinarstrafen verhängt, beherrscht die Insel und die anderen „Stationen“. Einer seiner Vertresitzen. ter schlägt sich, nachdem er degradiert wurde, zu den Kresten. Zum Schluß spielen die guten Menschen Ball und beten im Feuerschein „Barme Kres“. Wäre das Stück ein Beitrag aus den Entwicklungsländern, würde man es hinnehmen. Boll indessen... — will er uns wirklich glauben machen, daß er von der Naivität, die er predigt, selber erfüllt ist? Die Spielfreudigkeit des von Karl Heinz S t r o u x einfallsreich geführten Ensembles konnte die Befürchtung nicht verdrängen, daß mit chtonischen Mythen eher der Ast abgesägt wird, auf dem wir samt unserer bescheidenen Kultur nun einmal

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