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Boll und unsereins

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Unter den vielen Nachrufen auf den Schriftsteller Heinrich Boll sprang ein Satz von Marcel Reich-Ranicki ins katholische Auge: „Er war wirklich ein Christ, ein gläubiger Katholik. Eben deshalb hat er ein Leben lang mit der katholischen Kirche gehadert, aus der er schließlich offiziell ausgetreten war, ohne sich je — so paradox dies auch klingen mag — von ihr getrennt zu haben.”

Ein gläubiger Katholik, der aus der Kirche austritt. Geht das? Boll selbst hatte seinen und seiner Ehefrau Austritt seinerzeit als speziell deutsche Notwendigkeit” erklärt und in einem Interview hinzugefügt: „Wir definieren uns aber immer noch als katholisch... Wir gehören zum Körper, aber nicht mehr zur Körperschaft.”

Niemand hat eigentlich an der subjektiven Ehrlichkeit dieser Aussage gezweifelt. Boll war immer ein Anwalt der kleinen Leute, der Schwachen, Vergessenen, Getretenen und der Ausgebeuteten. Die Kirche seines Landes stand, fand er, zu oft auf Seite der Mächtigen, der Etablierten und Arrangierten. Mathias Schreiber nannte seinen ,J3rief an einen jungen Katholiken” (1958) ein .Lehrstück über doppelte Moral”.

Nun besteht heutzutage eine unverkennbare Tendenz zur Individualisierung und Privatisierung von Glaube und Moral. Was wahr, was gut ist, bestimmt man gerne selbst. Mit Christentum und Kirche hat das nur wenig zu tun. Kirche ist ein soziales Phänomen, Moral nur im Gemeinschaftsbezug (zu Gott, zu den Mitmenschen, zur Schöpfung) sinnvoll zu begreifen.

Mit einem Wort: Dorthin kann die Sache des Christentums nur schwerlich laufen, A ber Heinrich Boll hätte sich wohl auch mißverstanden gefühlt, hätte man aus seinem Verhalten eine Generalregel fabriziert.

Er wollte eher Signalgeber sein. Dichter, Künstler sind als erste zur Zeichensetzung berufen. Man nimmt ihnen die Symbolhaftigkeit einer Geste dann ab, wenn ihr Leben die Geste nicht Lügen straft.

Konkret:, Wenn einer aus der Kirche austritt, weil ihm Lieblosigkeit, Machtanbiederung und Doppelmoral in ihr unerträglich geworden sind, und er lebt uns Liebe, Gewaltlosigkeit, Moral dann wirklich vor, so kann das in der Tat die Kraft sein, uns andere zu beschämen, die wir alle unsere Kompromisse mit dem Alltag schließen.

Ob Heinrich Boll diesem hohen Anspruch genügt hat, haben nicht wir zu entscheiden. Den Anspruch zu bedenken: Das trifft uns alle.

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