Geschichte als Wissenschaft von der Gerechtigkeit

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Im Mittelpunkt steht der Mensch: Der Historiker Eric Hobsbawm (1917-2012) prägte die Geschichtsschreibung.

Der Kosmopolit Eric Hobsbawm hatte wienerisch-berlinerisch-englisch-jüdische Wurzeln. Das Wienerische schimmerte in seiner Sprache immer durch. Der Historiker Hobsbawm war mit seinen Analysen über die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts - bis in die Gegenwart - in Fachkreisen, aber auch als weltweit anerkannter Analytiker historischer Entwicklungen und Ereignisse präsent. Seine Werke hatten den - wie es im aktuellen Wissenschaftsjargon heißt - höchsten Impact-Faktor. Und er wird an die 700.000 Mal im Internet genannt. Diese Wirksamkeit erreichte er wohl wesentlich auch, weil er die Entwicklungen nicht nur analysierte und deutete, sondern auch, weil er wertete und die Geschichte als ein notwendiges Fundament für eine Gestaltung der Welt in emanzipatorischer Absicht ansah.

Seine Kindheit und Jugend verbrachte Hobsbawm in Wien und in Berlin. In Berlin wurde Hobsbawm nachhaltig politisiert. Er nahm an Demonstrationen teil, die ihn später an jene der jungen radikalen Linken im Jahr 1968 erinnerten.

Die Verbindungen zu Wien

Ein Lehrer am Gymnasium, dem er begeistert von der Lektüre der Gedichte Bert Brechts berichtete, schickte ihn aufgebracht in die Schulbibliothek, damit er sich dort selbst überzeugen möge, dass Brecht keine gute Literatur sei. Eric Hobsbawm ging in die Bibliothek, und er entdeckte dort das Kommunistische Manifest von Karl Marx.

Im Frühjahr 1933 verließ Eric Hobsbawm Berlin, er ging nach London, machte dort die Matura, begann ein Studium.

Mit der intellektuellen Wiener Kultur, mit der Wiener Diaspora, mit Herbert Steiner und dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, mit dem Jakobiner-Forscher Ernst Wangermann war Eric Hobsbawm sein Leben lang in Verbindung. Vor etwas weniger als fünf Jahren wurde Hobsbawm Ehrenbürger der Stadt Wien, und wenig später erhielt er auch das Ehrendoktorat der Universität Wien.

Für StudentInnen der Geschichte und junge HistorikerInnen, die sich Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts für eine Geschichtsforschung zu interessieren begannen, in der das alltägliche Leben der Menschen, auch der einfachen Leute, der Angehörigen der Unterschichten, der Outlaws vorkam, gab es mit Eric Hobsbawm in der internationalen Fachliteratur die Referenzfigur. Hobsbawms Buch "Sozialrebellen“ war eine wichtige Sozialisationsinstanz für die junge kritische Historikergeneration. In diesem Buch über archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert schreibt Hobsbawm über vorsozialistische Banditen, die sich für Gerechtigkeit einsetzten, über den großstädtischen Mob, über Symbole und Rituale in Sozialbewegungen. Mit dieser Studie inspirierte er eine "Geschichte von unten“, Geschichte als "historische Anthropologie“. Eric Hobsbawm zerstörte mit diesem Werk und mit anderen Arbeiten nostalgisch-romantische Vorstellungswelten jeder Art von Helden - gleich, ob in der Politik, in der Rebellion gegen politische Macht oder in der Übergangszone, nämlich dort, wo Banditen in die Politik wechselten. In seinen Werken hat Eric Hobsbawm die Potenziale historischer Analyse voll ausgeschöpft.

Um Eric Hobsbawms Ansätze, seine Zugangsweise und seine Methode kennenzulernen, sollte man drei seiner Bücher parallel lesen: "Age of Extremes“, in deutscher Sprache "Das Zeitalter der Extreme“ - sein Buch über Politik, Gesellschaft, Kultur und Kunst im 20. Jahrhundert; seine Autobiografie "Interesting Times“, in der deutschen Ausgabe "Gefährliche Zeiten“; und schließlich das Buch "Uncommon People. Resistance, Rebellion and Jazz“ in Deutsch: "Ungewöhnliche Menschen. Über Widerstand, Rebellion und Jazz“, in dem der Jazz liebende Hobsbawm z.B. auch ein eindrucksvolles Porträt von Billie Holiday zeichnete.

Gegen soziale Ungerechtigkeit

Seiner Autobiografie hat er den Titel "Interesting Times“ gegeben. Dabei hat er an den chinesischen Fluch gedacht "Ich wünsche dir, in einer interessanten Zeit zu leben“. Dass diese "interessanten“ Zeiten - objektiviert in einer Reihe von Genoziden - gefährliche, ja mörderische Zeiten waren, zeigt Hobsbawm eindrucksvoll in seinen Publikationen.

Die postmoderne Entwicklung der Geschichtswissenschaft, Geschichte nicht als Tatsachen, sondern als Texte, Erzählungen und Narrative zu thematisieren, machte ihn ärgerlich: "... die Tendenz, Fakten als unwichtiger zu betrachten, schafft ein Klima des Relativismus. Es ist gefährlich, wenn wir eine Geschichte schreiben, die nicht danach beurteilt wird, ob sie wahr ist oder nicht, sondern danach, ob sich die Mitglieder einer bestimmten Gruppe damit wichtigmachen“, so Hobsbawm.

Hobsbawm empfiehlt Kritik und Skepsis, Verantwortung und Gestaltungswillen: "Soziale Ungerechtigkeit muss immer noch angeprangert und bekämpft werden. Von selbst wird die Welt nicht besser.“

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