Eric Hobsbawm: Universalhistoriker, Marxist, Visionär

19451960198020002020

Das Leben des Geschichtswissenschafters Eric Hobsbawm war eng verknüpft mit den "großen Erzählungen“ des 20. Jahrhunderts. Erinnerungen an einen unangepassten Zeitgenossen.

19451960198020002020

Das Leben des Geschichtswissenschafters Eric Hobsbawm war eng verknüpft mit den "großen Erzählungen“ des 20. Jahrhunderts. Erinnerungen an einen unangepassten Zeitgenossen.

Werbung
Werbung
Werbung

Vor ziemlich genau vier Jahrzehnten drückte mir einer meiner damaligen Lehrer an der Universität Wien, Michael Mitterauer, zwei Bändchen aus der Suhrkamp-Reihe in die Hand. Das war "Industrie und Empire“ von Eric Hobsbawm. Mitterauer, der liberal-katholische Sozialhistoriker, und ich, der junge, linke Politikhistoriker, hatten ganz unterschiedliche Sichtweisen auf den Text, was beim Rigorosum nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereitete. Hobsbawms Texte waren schon immer vielschichtig und damit breit auslegbar.

Sucht man in einer Disziplin, die ganz wenige "Stars“ kennt, in der kein Nobelpreis verliehen wird und in der unterschiedliche nationale und politische Perspektiven existieren, nach großen, allgemein akzeptierten Persönlichkeiten, so gibt es wohl keine Shortlist, die nicht den Namen Eric Hobsbawm enthält. Dabei war der letzte Woche im Alter von 95 Jahren verstorbene Forscher alles andere als ein angepasster Geist. Im Gegenteil, zeitlebens ein Feuerkopf, ein Querdenker, ein Mann, der auch in Alltag und in der Kultur kaum Kompromisse einging. Er liebte den Jazz und war regelmäßiger Konzertkritiker im "Guardian“. Er war ein Fußballexperte, der die Aufstellungen des Favoritner AC aus den späten Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts im Kopf hatte. Er war lange Zeit Pfeifenraucher und er war selbst dann noch Kommunist, als diese politische Richtung längst aus der Mode war.

"Das kurze 20. Jahrhundert“

Sein Leben könnte gut stellvertretend für das "kurze 20. Jahrhundert“ stehen. Den Begriff hat Hobsbawm in seinem Werk "Das Zeitalter der Extreme“ geprägt, er umfasst für ihn die Zeit von 1914 bis 1989. Schon die Geschichte seiner jüdischen Eltern und Großeltern deutet die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts an. Die Großeltern, David und Rose Obstbaum, waren schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem russischen Teil Polens nach England ausgewandert und hatten den Namen Hobsbaum angenommen. Der Sohn, Erics Vater, Percy, hatte es sich in den Kopf gesetzt, im Ersten Weltkrieg eine Angehörige eines Feindesstaates zu heiraten, Nelly Grün aus Wien. Geheiratet konnte nur in der neutralen Schweiz werden, und eine Ansiedlung war letztlich nur in Ägypten möglich, da die Welt in Flammen stand. So kam Eric 1917 in Alexandria zur Welt, wo ein Schreibfehler des Standesbeamten zum Namen "Hobsbawm“ führte, was Studierende oft vor Schreibprobleme stellt.

Nach dem Krieg konnte die Familie nach Wien, zu den Großeltern, und Eric ging dort zur Schule. Er erlebte in der aufgeheizten Zwischenkriegszeit seine erste politische Sozialisation. Da seine Eltern früh verstarben, zogen seine Schwester und er 1931 nach Berlin. Es ist nicht erstaunlich, dass jemand, der in Wien den jungen Sozialdemokraten nahegestanden war, in Berlin den Weg in die KPD finden konnte, die kampfbereiter gegen den aufkommenden Nationalsozialismus war als die "alte Tante“ SPD.

Es war ein glücklicher Zufall, dass der Onkel 1934 nach England zog, um sich beruflich zu verändern. So kamen Eric und seine Schwester in ein Umfeld, das in den nächsten Jahren für die Familie jene Sicherheit bieten konnte, die in Deutschland Schritt für Schritt, insgesamt aber sehr rasch verloren ging. Eric ging in eine öffentliche Schule und studierte ab 1936 mit einem Stipendium am King’s College in Oxford. In diesem Jahr wurde er auch Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens. Er sollte der Partei die Treue halten, trotz seiner scharfen Kritik der Verbrechen des Stalinismus. Hobsbawm sah sich in der eurokommunistischen Tradition, nach dem Vorbild der KP Italiens.

Nach dem Krieg wurde Hobsbawm Dozent am Birkbeck College in London, wo er, wohl wegen seiner Gesinnung, erst 1970, im Alter von 53 Jahren, eine Professur erhielt. Da war er schon mit bahnbrechenden Werken wie dem erwähnten "Industrie und Empire“, aber auch mit den "Banditen“ in die erste Reihe der Sozialhistoriker vorgestoßen.

"Erfundene Tradition - erfundene Nation“

1982 emeritierte Hobsbawm in London und begann weltweit zu unterrichten. In den USA, vor allem aber auch in Lateinamerika, lehrte und forschte er in den Folgejahren. Epochemachend war sein 1983 mit Terence Ranger veröffentlichtes Werk "The Invention of Tradition“, in dem er, die Ideen des Konstruktivismus aufgreifend, die bisherigen Ansätze der Nationalismusforschung auf die Füße stellte: Nicht länger war die "Nation“ eine vorgegebene Größe, die mit Merkmalen wie Sprache, Abstammung, Religion oder Staatsbürgerschaft beschrieben werden musste. Hobsbawm zufolge waren es die Nationalisten, die die Nation "konstruierten“ und ihr eine Tradition zuschrieben, die teils erfunden, teils aus einer Palette historischer Versatzstücke zusammengesetzt wurde. Mit Forschern wie Ernest Gellner oder Benedict Anderson leistete er die Grundlagenarbeit für ein völlig neues Verständnis der Staatenbildung.

Ebenso bedeutend sollte "Das Zeitalter der Extreme“ werden, bis heute die Grundlagenlektüre der meisten Studierenden der Zeitgeschichte. Es ist einerseits die breite, nie eurozentristische Perspektive, die diesen Band auszeichnet, anderseits die zentrale These, dass das 20. Jahrhundert "kurz“ sei und durch den weltpolitischen Gegensatz der konkurrierenden "großen Erzählungen“ des liberal-konservativen Westens und des Weltkommunismus geprägt sei. Die beiden großen Kriege zieht er dabei zu einem "dreißigjährigen Krieg“ zusammen, da er mit guten Argumenten die Zwischenkriegszeit nicht als eine Epoche des Friedens sieht. Politik steht dabei nie isoliert, Hobsbawms Schriften sind auch sozial und vor allem kulturhistorisch interessant, wobei der Musik ein besonderer Stellenwert zufällt.

Hobsbawms Arbeitergeschichte

Hobsbawms Arbeitsschwerpunkt war zeitlebens das Leben und Handeln der arbeitenden Menschen. Von den "Banditen“ im Jahr 1972 bis zu jüngeren Arbeiten war ihm dies wissenschaftliches, politisches und persönliches Anliegen. Das band ihn auch an Österreich. So war er mehrfach Gast in Linz bei den Tagungen der ITH, der Konferenz der internationalen ArbeiterhistorikerInnen, wo ich ihn mehrfach treffen konnte. Dorthin bringen konnte ihn vor allem Herbert Steiner, der Gründer des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, ein Freund Hobsbawms aus den Emigrationstagen in London. Obwohl theoretisch und methodisch viel weiter als die in Linz versammelte Gruppe aus der Wissenschaft, war er doch anregender und freundschaftlicher Gesprächspartner, so auch für mich. Über seine intensiven Kontakte zur Bundeshauptstadt Wien wird ja an anderer Stelle berichtet.

Bis zu seinem Tode war Hobsbawm ein wacher Beobachter und Analyst seiner Zeit. Noch hochbetagt widmete er sich auch der Zukunft: Mit seinem politisch unveränderten Grundverständnis glaubte er immer an positive Entwicklungsmöglichkeiten. So rundet auch "How to Change the World. Tales of Marx and Marxism“ 2011 sein umfassendes Lebenswerk ab.

Helmut Konrad ist Professor für Allgemeine Zeitgeschichte an der Universität Graz.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung