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Hymnus an Jen Scklaf

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Einsamkeit immerdar und die Erde wiederum! Dunkle Schwester und strenge Freundin, unsterbliches Angesicht aus Dunkelheit und Nacht, mit dem ich meines Lebens halbe Frist verbrachte und mit dem ich zusammenhausen werde immerdar bis zu meinem Tod — was sollte ich zu fürchten haben, Einsamkeit, so lang du bei mir bist? Heldische Freundin, Blutsschwester des stolzen Todes, dunkles Angesicht, sind wir nicht zusammen Millionen Straßen entlanggegangen, nicht zusammen auf den großen, wütigen, nächtlichen Zufahrten umhergestreift, haben wir nicht zusammen und allein die stürmischen Meere gekreuzt und fremde Länder bereist und sind wiedergekommen, um wiederum auf dem Kontinent der Nacht umherzu-wandeln und abermals der Stille der Erde zu lauschen? Sind wir nicht tapfer und glorreich gewesen, Freundin, wenn wir zusammen waren, und haben wir nicht dieser Erde Triumph, Freude und Herrlichkeit erlebt — und wird es nicht wieder so werden mit mir, wie es damals war, wenn du zu mir zurückkehrst? Komm zu mir, Schwester, in den Wachen der Nacht, komm zu mir im geheimen und stillsten Herzen der Dunkelheit, komm zu mir, wie du immer kamst, und bring sie mir noch einmal, die alte unbesiegliche Kraft, die todlose Hoffnung, die Freude und das sieghafte Zutrauen, das wieder die Schanzen der Erde erstürmen soll.

Komm zu mir über die Felder der Nacht, liebe Freundin, komm zu mir auf den Rossen deines Bruders, des Schlafs, und wir wollen wieder der Stille der Erde und der Dunkelheit lauschen, dem Herzschlag der Schläfer lauschen, wenn mit dem sachten und rauschenden Donnern ihrer Hufe die fremden, dunklen Rosse des großen Schlafs wieder ankommen.

Sie kommen! Schiffe rufen! Die Hufe der Nacht, die Rosse des großen Schlafs kommen heran unter ihren Mähnen aus Dunkelheit. Und immerdar fließen die Ströme. Tief wie die Flutgezeiten des Schlafs fließen die Ströme. Wir rufen!

Sie kommen; meine großen, dunklen Rosse kommen! Mit dem sachten und rauschenden Donnern ihrer Hufe kommen sie, und die Rosse des Schlafs galoppieren, galoppieren über das Land.

Oh, sacht, sacht galoppieren die großen, dunklen Rosse des Schlafs über das Land. Die Flutgezeiten des Schlafs schwellen über Amerika hin; unter den Flutgezeiten des Schlafs und der Zeit schwimmen fremde Fische.

Schlaf nämlich hatte sich quer über die abgespannten Tagesgesichter gelegt, und zur Nachtzeit, im Dunkeln, in all der Schlafstille von Städten und Städtchen sind die Gesichter von zehn Millionen Menschen fremd und dunkel geworden wie die Zeit. Im Schlaf werden wir eins mit dem Herzen der Nacht und der Dunkelheit, und schlafend sind wir fremd und schön; wir sterben nämlich in der Dunkelheit, und wir kennen dann keinen Tod, denn da ist kein Tod, da ist kein Leben, keine Freude, kein Kummer und keine Herrlichkeit auf Erden, außer dem Schlaf.

Komm, milder und großmäch'tiger Schlaf, und laß deine Flutgezeiten schwellen über uns hin! Oh, Sohn des unvordenklichen Verlangens, Bruder des Todes und meiner strengen Gefährtin, der Einsamkeit, du Bringer von Frieden und dunklem Vergessen, Heiler und Erlöser und lieber Zaubrer, höre uns! Komm zu uns über die Felder der Nacht, über die Ebnen und Ströme der immerdar dauernden Erde und bring die Arznei, die das große, verworrene Wesen dieser Welt und die Wut, das Weh und den Wahnsinn unsrer Leben löst! Versiegle die Wandelgänge unsres Gedenkens, stiehl uns zärtlich und fein unsre Leben hinweg, lösch die Wahrbilder verlorner Liebe, verlorner Tage und all unsern uralten Hunger aus, großer Verwandter, heile uns.

Oh, sacht, sacht galoppieren die großen, dunklen Rosse des Schlafs übers Land. Die Flutgezeiten des Schlafs schwellen herein in die Herzen der Menschen, sie fließen dahin wie Ströme durch die Nacht, sie fließen dahin mit Gesang und mit der Fülle ihrer dunklen, unergründeten Kraft in die Millionen Taschen des Landes und über die Ufer des ganzen Erdreichs. Sie fließen dahin mit der ganzen Gewalt ihrer vorwärtsströmigen, unaufhaltsamen Flut über den Kontinent der Nacht, über die weithin und breithin aufgefaltete, unsterbliche Erde, bis die Herzen aller Menschen vom Gewicht, das sie drückt, befreit, bis die Seelen aller derer, die je in Angst und Mühsal Atem holten, geheilt, beschwichtigt und erobert sind vom weiten, zaubrischen Walten des dunklen, stillen, allumfassenden Schlafs.

Schlaf fällt wie Stille auf die Erde, er erfüllt die Herzen von neunzig Millionen Menschen, er wandelt wie ein Zauberbann in den Bergen und wallt wie Nacht und Dunkelheit über die Ebnen und Ströme der Erde, bis tief auf dem Tiefland und hoch auf den Hügeln Schlaf süß dahinfließt, Schlaf sanft sich ausgießt — oh, Schlafl — Schlaf! — Schlaf!

Aus: „Vom Tod zum Morgen.“ Erzählungen. Rowohlt-Verlag, Stuttgart-Hamburg.

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