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Die Einsamkeit

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Es war eine gute Entscheidung der Berliner Festspieljury, die Hauptdarstellerin des englischen Schwarzweißfilm „Th,e whisperers“ („Flüsternde Wände“) Edith Evans mit einem „Silbernen Bären“ auszuzeichnen. Edith Evans ist keine strahlende Schönheit, sondern eine alte Frau, die in diesem eigenartigen, faszinierenden Film eine Fünfund-siebzigjährige spielt. „Flüsternde Wände“ ist aber auch ein bedrük-kender Film, nicht nur vom Milieu her, einem ärmlichen Arbeiterviertel am Rande einer modernen Industriestadt, auch vom Inhalt her, denn der Streifen schildert ein brennend aktuelles, viel zuwenig bedachtes und viel zu sehr zerredetes Problem, nämlich das Leben eines alten, entsetzlich einsam gewordenen Menschen.

Es ist kein außergewöhnliches Schicksal, das hier dargeboten wird, sondern vielmehr ein alltägliches, sicher oft und oft sich ereignendes, es ist das Leben einer alten Frau ohne Lebensinhalt, weil ihr das Schicksal jeden Erfolg versagte und sie letztlich immer scheitern ließ. Vielleicht scheitern die Menschen viel mehr, als sie sich einzugestehen vermögen, denn aus der Distanz der Jahre erkennt man erst richtig, wie wenig gelang. Mrs. Ross verlebt in ihrer ärmlichen, von allem möglichen Gerumpel angefüllten Wohnung den Abend ihres Lebens. Sie ist allein, ihre Gesprächspartner sind die alten, verwitterten Wände ihrer Behausung und das Knarren der Bretter und Mauerrisse sind für sie Stimmen, vor denen sie Angst hat, mit denen sie aber Zwiesprache hält und die ihr das Gefühl geben, nicht völlig vereinsamt und vergessen zu sein. Ihr Sohn ist ein Strolch geworden, er kommt nur ganz selten, wenn er gerade nicht im Gefängnis ist und einen Unterschlupf benötigt. Eines Tages taucht ihr verschwundener Gatte wieder auf, aber nur für kurze Zeit, denn nach einer neuerlichen Gerneinheit macht er sich wieder davon, und sie muß erkennen, daß sie zur Einsamkeit verurteilt ist.

Der Streifen rührt ein soziales Problem auf, das immer akuter wird und nie durch soziale Gesetze gelöst werden kann: die Einsamkeit der alten Menschen. Ein unpathetischer Appell an das Gewissen jedes einzelnen, die alten Menschen nicht zu vergessen, die Eltern, Großeltern und Nachbarn. Edith Evans bietet eine aufrüttelnde Studie dar, noch dazu wo dieser Film in Original-spraehe gezeigt wird und keinerlei Verfremdung durch andere Stimmen eintritt. Neben billigen und billigsten Agentenstories, Rückfällen in die Jahrmarktsschaubudenzeit des Films, mit heutigem Bikinisex angereichert, steht dieser Film als seltenes Kunstwerk da, als künstlerisches Lebenszeichen, das uns wieder daran erinnert, welch großartige “Erfindung der Filmstreifen ist.

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