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LOB DER GENTLEMEN

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Ich grüße einige Seltene und Erlesene, von denen man sagt, sie wären im Aussterben begriffen —: ich grüße die Gentlemen. Mein Gruß, so fürchte ich, wird sie nie erreichen, denn die, die ich meine, die echten und wahren Gentlemen, haben nie von sich gedacht, daß sie es wären. Vor ihren scheuen, höflichen Männerherzen steht ein zürnender Engel der Selbsterkenntnis, der solcher Eitelkeit den Eintritt verwehrt. Sie denken an sich selbst mit Trauer und demütigem Zorn als Unzulängliche. Sie sind unter die Folter eines ewig unerreichbaren Ziels gespannt, denn sie tragen es vor sich her. Sie sind geschlagen und gezeichnet von zwei harten Prüfungen: sie haben ein Ideal und zugleich ein Gewissen. Es ist darum schwer, sie anzureden. Sie wissen nichts von sich, und sie erkennen sich untereinander nur selten und bei Gelegenheit. Sie sind ein Orden ohne Fahne, sie haben keinerlei Erkennungsmarke. Sie tragen jegliches Gewand und sprechen jede Sprache und jeglichen Jargon. Und sie enthüllen sich nur da, wo die Gelegenheit sie ruft. Ein Gentleman war jener Lord, dem seine Frau davongelaufen war und der ihr, als sie mit dem Geliebten zu Fuß über die Landstraße floh, seine Kutsche nachschickte: denn es sei nicht angemessen, daß die Frau eines Gentleman zu Fuß gehe. Ein Gentleman war aber ebensogut jener russische Grenadier aus den Freiheitskriegen, der bei einem alten deutschen Mütterchen freundliche Unterkunft gefunden hatte und der, als er beim Ausrücken vergeblich versuchte, ihr seinen Datijc verständlich zu machen, schließlich hįolįef, sein Gęwehr holte un4 es vor ihr präsentierte. Vielleicht ist der Stammvater aller Gentlemen Sisyphūs der Unermüdliche. Denn obwohl dies Sinnbild der Vergeblichkeit der griechischen Mythologie entstammt, ist es zugleich ein christliches Ideal.

Der Gentleman ist Christ. Die christlichste aller Tugenden aber ist Demut. Das unterscheidet den Gentleman sehr wesent lich von seinem Vetter, dem Kavalier. Kavalier, das kommt von Chevalier, das ist beritten, großartig, hochtrabend und von tänzelnder Anmut. Der Chevalier ist die ästhetische Fasson, der Gentleman die moralisch-ethische. Er ist der abgesessene, demokratisierte Kavalier; sein Name bedeutet zweierlei: gentle = das heißt zart, schonungsvoll, unaufdringlich; und man = das wiederum heißt Mann und Mensch zugleich. Und diese hohe Kunst: die Zartheit und die Männlichkeit zu vereinen — und die höchste aller Künste, nämlich ein Mensch zu sein —: das ist das Ideal.

Zur Kunst, ein Mensch zu sein, gehört es, daß man das Wissen um die Unzulänglichkeit und Vergeblichkeit und schließlich auch um die Hinfälligkeit alles Strebens in sich trägt, und daß man trotzdem weiterstrebt, sich weiter bemüht, wie jener heidnische Urchrist Sisyphus. Aber auch die Kunst der zarten, schonungsvollen Männlichkeit ist fast verschollen und zur Mythe geworden. So sind auch die Partner im Spiel der Gentlemen um die vollende Lebensform — die Damen — selten und legendär geworden. Wenn jene Inhalt sind, so haben sie ganz Form zu sein. Was man von einer Dame erwartet, ist Haltung und Gebärde, Anmut. Gemessenheit und Distanz. Immer fordert sie den Gentleman heraus, und immer wird sie von ihm herausgefordert. Sie ist die einzige, die ihn mit Sicherheit zu erkennen weiß. Sie weiß, daß es kein Verlust an Männlichkeit ist, zu lieben.

Denn was den Gentleman vor allem auszeichnet, ist dies: die Fähigkeit zu lieben. Nicht nur eine Frau zu lieben, sondern die Kreatur zu lieben, das Leben, die Welt zu lieben. Und darum dankbar — das ist: großzügig, duldsam, männlich und zart zu sein. Die Gentlemen sind die namenlosen Ritter der sozialen Tugend, die Ordensbrüder einer wirklichen Demokratie. Im Wechselspiel mit ihren Damen erheben sie den alltäglichen Umgang zur Lebenskunst, das alltägliche Neben- und Miteinander zur harmonischen Gesellschaft.

Daß sie namenlos sind, die Gentlemen, daß sie nicht nur durch Tracht und Zunftzeichen kenntlich sind und keine Standessprache sprechen, sondern nur die gemeinsame Sprache der höflichen Herzen —: das allein macht sie nicht einsam. Sie denken an sich nicht als Einsame in diesem Sinn, sie denken an sich als Ausgestoßene und Unzulängliche. Es gehört zu ihrem Wesen, den echten Gentlemen immer im anderen und niemals in sich selbst zu sehen. Was sie einsam macht, ist ihr Gewissen.

Ich grüße die Gentlemen, die Ordensbrüder des höflichen Herzens, die letzten Ritter der christlichen Zivilisation, denn ihre Nächte sind sorgenvoll und erfüllt vom Ringen mit dem Engel.

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