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Der Gentleman und der Christ

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„Gentleman“ — wenn ich doch dafür einen deutschen Ausdruck fände! „Edelmann“ stimmt nicht; „edler Mensch“ paßt auch nicht; der „anständige“, der „wohlerzogene“, der „ritterliche“, der „weltgewandte“ Mensch — keines trifft, was „Gentleman“ sagen will. Nicht einmal in einer anderen Fremdsprache ließe er sich benennen: weder der französische „Grandsei-gneur“, noch der spanische „Grande“ ist das, was ein „Gentleman“ bedeutet. Aber es ist doch auch nicht möglich, daß nur der Engländer ein Gentleman sein kann und ist.

„Gentleman“ — das hat zunächst gar nichts mit dem Geburtsadel zu tun; jedermann kann es sein. Wenn er es ist, hat er gewisse Eigenschaften, die ihn auszeichnen und von allen anderen „gebildeten“ Menschen unterscheidet. Er hat eine eigenartige Formung seines Wesens, die man am besten damit umschreibt, daß er niemals „dramatisch“ ist: Er übertreibt nicht und ist nie weniger als er ist; er ist nicht laut, aber er hat seine sichere Meinung, sein Urteil, das er mehr lebt als ausspricht; er macht weder sich noch anderen etwas vor, sondern strahlt eine ermutigende simplicite aus — eine Einfalt und Selbstverständlichkeit, die wie ein Spiegel und zugleich eine Reinigung für alle wirkt, die ihm begegnen.

Das heißt also: ein Gentleman lügt nicht.

Und doch hat der Gentleman eine Schwäche für die Schwäche: Er kann zusehen, wie etwas nicht durchaus nach der Mathematik und Logik, sondern nach der Unzulänglichkeit der Erde vor sich geht. Er wird zwar immer wissen und raten, daß zwei mal zwei vier ist — aber er versteht, daß dies nicht immer zutrifft. Wo es aber nicht zutrifft, dort setzt er sich selbst ein. Ohne viel Aufsehen ergänzt er an seinem Platze und von sich aus, was gerade fehlt — so gut er selbst es kann; denn auch er kann nicht alles und weiß dies und kann es zugeben. Allem Schwachen und Vorläufigen und Unvollendeten gegenüber ist er barmherzig — ohne beleidigend zu werden und eitel zu sein.

Der Gentleman hat die rechte Toleranz. Er ehrt immer die Meinung, die ein Mensch von irgend etwas hat, weil jedem Menschen ein Recht auf seine Ueberzeugung zusteht. Er wird den Inhalt dieser Ueberzeugung zwar nicht billigen, wenn sie seiner eigenen Ueberzeugung widerspricht; aber Toleranz besteht ja eben darin, daß nicht die fremde Wahrheit, sondern die fremde Ueberzeugung geachtet wird. Das heißt also: Der Gentleman ist gegen jede Art ton Terror. Etwas Bestehendes mit Gewalt umschrecken ist Lüge und erbarmungslos. Terror in der Politik, in der Kultur, in der Religion — ist unmenschlich; ein „Herr“ tut so etwas nicht; dabei ist der Gentleman gar nicht einmal darauf aus, ein Idealmensch oder ein „Herr“ zu sein; er ist ein Diener und Hüter des Schwachen und Vorläufigen. Denn er hat die tiefe Einsicht in den Zusammenhang der Welt und Ereignisse: daß sie so wie sie sind, nie vollendet sind; er hat den Ueberblick über vieles; er fand den Reim, den einzigen, den es für das jetztmögliche Leben gibt: daß es reine Vorbereitung ist auf etwas ganz anderes, auf etwas unerhört Neues. Der Gentleman ist gegen jeden hiesigen Terror, weil er an den kommenden Herrn glaubt, den es vorzubereiten gilt.

Der Papst, von Gott bestellter Hüter der göttlichen Wahrheit auf Erden und Hirte der wandernden Schafe Christi, hat den Titel „Ser-vus servorum Dei — Knechj der Knechte Gottes“. Er ist der eigentliche Gentleman und dies aus Beruf. Und Christus, sein und unser Herr, beruft alle Christen zur gleichen Haltung in der Welt, wenn Er fordert: „Wer von euch der Erste sein will, der sei der Diener aller.“ Dienst an der Wahrheit, an der Ueberzeugung; Dienst gegen die Lüge und gegen die Intoleranz; Dienst durch Barmherzigkeit; Dienst gegen jede Gewalt. Dienstwille aus Größe und Einsicht und Uebersicht; Raumgeben und Zeitlassen aus Sehnsucht nach dem Vollkommenen. Das heißt: der Gentleman ist ein Christ.

Nur ein Christ kann ein vollendeter Gentleman sein. Aergern Sie sich nicht über die Arroganz dieses Satzes. Aber wie sollte ein Mensch, der vom Jetzigen und Hiesigen, von der l-rde die rund ist, von der Welt, die ihren Sinn und Zweck in sich haben soll - wie sollte ein Mensch, der vom Irdischen allein lebt, solche Geduld und Größe aufbringen? Erleben wir nicht täglich den Bankrott unserer Ideen und Ideale — der großen und der kleinen —, nur weil das Leben nicht aufgeht, bei allem guten Willen sich nicht in Form und Schema pressen und leben läßt? Wer von der Erde und Welt ein Endgültiges erwartet, wird entweder eines Tages verbittert, dann ist er kein Gentleman: oder er wird phlegmatisch-faul und ist dann wiederum kein Gentleman. Die gründlichste Kraft eines Menschen, der nicht lügt und den Terror haßt und barmherzig ein Diener der Diener des Lebens sein will, ist die Hof f-n u n g. Aber nicht irgendeine; weder utopische noch phantastische, weder wissenschaftliche noch kulturelle Hoffnung, sondern jene, die sich auf die Verheißung eines Gottes stützt, des Gottes, dessen Bild und Begriff größer ist als es der Mensch erträumen oder erdenken kann; dessen Wesen aus dem Gotte selbst sich eröffnete und sich in Form der Teilnehmbarkeit eröffnete. Gott, dessen Wesen vom Menschen mitgelebt werden kann, ist der einzige Gott: ist der richtige Gott. Es ist der Gott, der Verheißung gibt und unsere wesentliche Hoffnung weckt. Auf diesen stets größeren Gott stützt sich der Gentleman. Im Gentleman wurde die Verheißung Gottes, an ihm teilhaben zu dürfen, eine Lebensform. Die Lebensform aus Hoffnung strahlt Sehnsucht nach der Vollendung aus, die einmal kommen wird. Sind Sie solchen Sehnsüchtigen schon begegnet? Diese haben sicher nicht oder nur selten und wenig von ihrer Sehnsucht gesprochen; aber sie haben alle etwas Zwingendes an sich, da sie auf etwas zuarbeiten, was im ersten Moment unverständlich oder überflüssig zu sein scheint. Die Sehnsüchtigen bereiten etwas vor, das die Erde und die Welt nicht begreifen; sie arbeiten auf etwas zu, das sich niemals aus den Sätzen oder Grundsätzen der bloßen Vernunft ableiten oder aus den Prinzipien der Natur entwickeln läßt. Die Sehnsüchtigen bereiten das Kommen des Herrn vor: Sein letztes Gericht und die Neuschöpfung von Himmel und Erde. Darum ist weder ihre Barmherzigkeit beleidigend noch ihre Toleranz eine Schwäche. — Nur der Christ hat diese Verheißungen und kann darauf seine hoffende Sehnsucht stützen. Darum ist der Christ ein Gentleman und der Gentleman nur als Christ möglich.

Der Gentleman ist ein Christ, dessen Lebensform die Hoffnung ist und der als ein Diener der Welt zugewandt sein will.

Nun kommt aber auch ein „leider“: leider scheint dieser eschatologische Christ in der Welt sehr selten zu sein. Denn fast möchte man sagen: Ein Gentleman hat es nicht leicht, sich unter Christen zu behaupten. Das hat er auch nicht; aber es liegt ihm nichts daran, ob er es leicht hat und ob er sich behaupten kann — denn sonst wäre er ja kein Gentleman. Er ist so und bleibt so, selbst wenn er keinen Erfolg hätte. Erfolg ist ein zweischneidiges Schwert. Erfolg ist immer jetzt und hat darum eine Zeugungskraft nach weiterem und größerem Erfolg in sich. Dann bleibt aber alles auf dieser Erde und schaut nicht vorwitzig und nicht sehnsüchtig nach dem Kommenden aus. Mit Erfolg kann man also einem Gentleman nicht kommen; der reizt ihn nicht. Aber die vielen Christen und Nichtchristen werden durch den Verzicht auf Erfolg gereizt. So kommt es, daß der Gentleman nicht sehr beliebt ist. Noch einen anderen Grund gibt es, warum es so wenige Gentlemen gibt: es scheint die Sauberkeit und Heiterkeit eines sehnsüchtigen Menschen den meisten Christen verdächtig. Ein Unverdächtiger, Thomas Mann, schreibt in seinem Buche „Das Gesetz“: „Die Heiligkeit fängt mit der Sauberkeit an und ist diese Reinheit im Groben aller Reinheit gröblicher Anbeginn.“ Die Sauberkeit und Kultur — was ja nichts anderes heißt als „Pflege“ — der Kleidung und des Körpers und der Wohnung bedeutet für den - Gentleman etwas Selbstverständliches. Das Drama des Drecks und der Terror der Unordnung im Aeußeren ist der erste Akt des seelischen, geistigen und religiösen Niedergangs. Eine Dekadenzerscheinung ist der Dandy (komisch: auch dies ist eine englische Wortfindung), mit dem oft der Gentleman fälschlich verwechselt wird. Der Dandy ist eine Fassade; er ist ganz äußerlich und Effekthascherei mit modischen Mitteln. Der Dandy ist modisch, um aufzufallen; der Gentleman ist modern, um nicht aufzufallen. Das Bedürfnis nach Sauberkeit als Mittel und Ausdruck innerer Bereitschaft für den steten und stets kommenden Besuch des großen Herrn Gott läßt den Gentleman modern sein in Hygiene, Kleidung und Wohnung. Nicht dramatische Zurschaustellung der eigenen Person, sondern Dienst und unmerklicher Aufruf zur inneren, geistigen Reinheit der Zelte läßt den Gentleman ästhetisch wirken. Körper, Kleidung und Wohnung sind die vorläufigen Zelte des sehnsüchtigen Menschen: sie müssen sein, aber sie sind stets auf Abbruch aufgestellt: wenn* der Herr erscheint, wird das Sterbliche von der Unsterblichkeit ergriffen und das Vorläufige mit dem ewigen Leben überkleidet werden. Sauber aus Sehnsucht, nicht aus Eitelkeit, so ist der Gentleman.

Das ist der versteckte Humor des Gentlemans. Er kennt sich aus, darum liegt über seinem Wesen eine gewisse Trauer; darum ist er immer ein wenig skeptisch allen Neuerungen und Erfolgen und Entdeckungen gegenüber. Aber da er selbst seine eigene Trauer und die eingenommene Skepsis nicht allzu wichtig nimmt, hat er Humor. Lieber sich selbst lachen zu können, ist die erste Bedingung des Humors. (Wie sollte einer nicht über sich selbst lachen, der eingesehen hat, v i e die Spielregeln des Irdischen sind?) Sie kennen und doch befolgen, sie für vorläufig zu halten und doch ernst dabei sein und mit Verantwortung, heißt spielen können, mit Bedacht und Eifer der Kinder, mit Heiterkeit und Skepsis, mit Toleranz und Barmherzigkeit, mit schwermütigem Herzen und guter Laune. „Die Gestalt dieser Welt vergeht“ — „die Zeit ist kurz“ - „alles ist Euer“ — so wird man ein Christ, weil man ein Gentleman ist; so wird man ein Gentleman, weil man ein Christ ist.

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