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Der Gentleman als Staatsmann

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Die Frage, welche Kräfte den faszinierenden Aufstieg Englands bewirkt haben, hat die scharfsinnigsten kontinentalen Staatemänner, Historiker und Diplomaten unablässig beschäftigt. Auf welches Gebiet sie immer blickten, 6ie konnten eine Entwicklung feststellen, die in ihrer Stetigkeit, Weiträumigkeit und in dem Ausmaß ihrer greibaren Erfolge jede andere in den Schatten stellte. Eine Erscheinung von dieser Größenordnung und Vielfalt war nicht leicht einzuordnen. Einige Voraussetzungen waren allerdigs deutlich erkennbar: England war durch seine In6ellage der geschützteste Staat der Welt. Die Meere standen seinem Handel, seiner räumlichen Expansion zu Diensten. Es verfügte in besonderem Maße über das wesentlichste Hilfsmittel des industriellen Aufschwungs des 19. Jahrhunderte die Kohle. Aber diese mehrfache Gunst der Natur konnte nur einen, wenn auch gewichtigen Beitrag zur Erklärung des Phänomens liefern, daß 6ich ein Staat zweiter Ordnung in wenigen Generationen zum mächtigsten Imperium seit der Römerzeit emporgeschwungen hatte. Die Ursachen mußten tiefer — im Charakter der britischen Nation liegen und im inneren Wesen des Personenkreises, den sie mit der Führung ihrer Geschäfte betraut hatte.

Das politische System Englands beruht auf der Anschauung, daß die relativ beste Staateführung 6ich aus dem Widerstreit zweier Gruppen ergibt, die, über ihre interessenbedingten Gegensätzlichkeiten hinweg, durch unerschütterliche Gemeinsamkeiten verbunden sind. Diese Führerschicht beider Kräftegruppen, der statischen wie der dyamischen, deren Auslese unter den Augen der Nation im Parlament erfolgte, stellte der Adel. Er war kein Geburteadel im kontinentalen Sinne. Vier Fünftel der Familien der Lords trugen ihre Titel weniger als 100 Jahre, wenn auch die gfoßen historischen Familien den Grundstock bildeten.

Der Umstand, daß nur der älteste Sohn aus großem Haus den Rang und Titel der Familie erbte, schuf eine verbindende Schichte zum Bürgertum, das 6ich in Lebensart und Weltanschauung dem Adel anschloß. Das einigende Band der Public Schools und des Sporte tat ein übriges. Aus dieser Symbiose erwuchs der Gentleman, ein Personenkreis, weitgesteckt genug, um für die Aufgaben der Staateführung stete beliebig viele geeignete Kräfte zur Verfügung stellen zu können. Diese Oberschichte beherrschte das politische und soziale Leben widerspruchslos. Ihr gehörten der jüngere Pitt wie Fox an, untereinander die größten charakterlichen und politischen Gegensätzlichkeiten. Der in Oxford erzogene Sohn des Plantagenbesitzers Gladstone ebenso wie der Literat Disraeli, von dem das Wort ßtammt, das britische Weltreich werde so lange bestehen, als es von Gentlemen regiert werde. Eine solche Führerechichte an der Spitze einer jedem theoretischen Extremismus und Dogmatismus abgeneigten Nation brauchte auch die Ideen der Französischen Revolution, die geistigen und politischen Erschütterungen de6 Jahres 1848 nicht zu fürdi-ten. Denn 6ie fand in sich selbst jeweils die Kräfte zu zeitgeforderten Reformen, die Selbsteicherheit und Ausdauer, auch harte Schläge einzustecken und die zähesten Gegner zu überwinden. Die Wahlreform, die aus dem Parlament der „rotten borough“ eine moderne gesetzgebende Körperschaft machte, war das Werk des konservativen Lord Grey. Die Katholikenemanzipation erwuchs aus dem staatsmännischen Weitblick und der Großherzigkeit des Herzogs von Wellington. Diese Reihe läßt sich bis in die Gegenwart verlängern. Man denke an Südafrika, in dessen Parlament immer die besiegten Buren die Mehrheit hatten, wo sie die Premierminister stellten, wo man fast sagen könnte, daß durch den Burenkrieg nicht die Briten die Buren6taaten, sondern die Buren die britischen Besitzungen in Südafrika gewonnen haben. Die unvoreingenommene Staatsklugheit von Gentlemen, wohin man blickt.

Die Fairneß des Gentleman nahm dem politischen Kampf in England wohl nichts von seiner Härte, aber jede diffamierende Auswirkung. Die Gegner standen moralisch und sozial auf gleichem Niveau. Und warum sollte ein Gentleman nicht auch seine politische Uberzeugung ändern, wenn er zu neuen Erkenntnissen gekommen war? Im Gegenteil: nur ein Gentleman kann in diesem Falle mit Berechtigung fordern, daß auch seine neue Meinung mit Achtung gehört werde. Castle-reagh, Canning, Peel, Disraeli, Gladstone, Chamberlain, Churchill — sie alle haben im Laufe ihrer politischen Laufbahn ihre Partei gewechselt. Der Gentleman ist unpathologisch, ausgeglichen, innerlich souverän, lebensnah, der berechtigten Interessen der Andersdenkenden im Innersten bewußt — 60 war und 60 handelte die britische Oberschicht de6 Gentleman in den meisten ihrer zur Führung berufenen Vertretern. Und so hat 6ie — empirisch und fast instinktiv — das britische Weltreich geschaffen. Man legt das mit Brillanz geschriebene

Buch Reiners voll Nachdenklichkeit aus der Hand. Es legt eine hochinteressante, politische und soziale Entwicklung dar, es begründet sie mit einer Auslese, die zu den erstaunlichsten gesellschaftlichen Fortentwicklungen gehört. Der Autor versagt sich jede Andeutung, jeden Ausblick auf die Zukunft. Die Frage nach ihr drängt 6ich dem Leser von selbst auf. Auch die Frage, ob er den Schwanengesang für den Nachruf des Gentleman als Staatsmann gelesen hat, Für den Gentleman insularer? für den Gentleman kontinentaler Prägung?

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