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Staatsmann und Prophet

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Einen der hervorragendsten Vorzüge hochentwickelter Demokratien wird man sicherlich darin erblicken müssen, daß sie der politischen Persönlichkeit, in des Begriffes weitestem Sinne, die reichsten Möglichkeiten zu ihrer Entfaltung und Betätigung bieten. Zu dieser Erkenntnis gelangen wir, wenn wir die stattliche Reihe von Staatsmännern überblicken, die Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika nur im Laufe des letzten Jahrhunderts hervorgebracht haben — durchweg Persönlichkeiten von überdurchschnittlicher, oft vielseitiger Begabung, die sich im Klima demokratischer Freiheit und weltweiter, organisch aus dem Wesen und aus der Geschichte ihres Volkes heraus entwickelter Anschauungen zu voller Blüte zu entfalten vermochten und ihre Kraft in den Dienst ihres eigenen Landes wie auch des allgemeinen Fortschrittes und menschlicher Ideale gestellt haben. Sie sind als Typen des britischen und nordamerikanischen Staatsmannes kraft ihrer Leistungen und Gedanken, die sich über die unmittelbaren Grenzen ihres Tätigkeitsbereiches und über die kurze Zeitspanne ihres Lebens hinaus auswirken, in die Geschichte nicht nur ihres Landes, sondern der gesamten Menschheit eingegangen. Zu diesen Vertretern typisch angelsächsischen staatsmännischen Handelns gehört auch Lord K e y n e s, dessen plötzliches Ableben vor einigen Tagen aus London gemeldet wurde. Eine eingehende Würdigung seines Wirkens im öffentlichen Leben Englands, dessen erster Berater und Unterhändler Lord Keynes auf dem Gebiete der zwischenstaatlichen Wirtschaft und des Finanzwesens in den letzten dreißig Jahren würde über den Rahmen dieses Aufsatzes weit hinausgehen; es soll hier nur seine staatsmännische Persönlichkeit und ihre Bedeutung für die Nachwelt in wenigen wesentlichen Zügen profiliert werden.

Der für so viele politische Karrieren Englands charakteristischen Erziehung in Eton und Cambridge, die nebst seiner mathematischen Begabung auch seine künstlerischen und schriftstellerischen Neigungen entwickelte, folgte eine langjährige Tätigkeit als Berater einer Reihe von Finanzinstituten der Londoner City und schließlich des britischen Schatzamtes. In dieser Eigenschaft nahm der spätere Lord —i damals 35 Jahre alt — an den Verhandlungen über den Versailler Friedensvertrag teil. Die grundlegenden Fehler im Konzepte des wirtschaftlichen und finanziellen Fragenkomplexes, insbesondere bei der Lösung des Reparationsproblemes, erkannte Keynes von allem Anfang an und bekämpfte sie leidenschaftlich an Hand seiner Thesen und Erfahrungen über die innige Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeit der Wirtschaft und des Geldwesens der gesamten Welt — ein unverstandener, einsamer Künder der später auf Grund der bösen Folgen allgemein erkannten Wahrheit! Keynes legte seine Stelle als Finanzberater der Regierung nieder und faßte seine prophetische Meinung von der katastrophalen Entwicklung, die sich aus den Fehlern von Versailles ergeben müßte, in der sensationellen Schrift „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedens“ („The Economic consequences of Peace“) zusammen.

Diese Erkenntnis führte Keynes, als typisch englischen Kämpfer für seine Ideale, aber nicht in den Schmollwinkel, sondern feuerte ihn dazu an, auf praktischem Gebiet, als maßgebender Direktor der Bank of England und später wieder als Berater des Schatzamtes und Unterhändler der britischen Regierung, die Folgen der Ver-sailler Fehler, vor allem die Plage der Arbeitslosigkeit, nach Möglichkeit zu mildern und die erschütterte Weltwirtschaft auf gesündere Grundlagen zu stellen. In erster Linie verdankt es sein großes Vaterland ihm und seinen ebenso kühnen wie unermüdlichen Bestrebungen, daß es in so kurzer Zeit die Krise der Jahre 1930/31 zu überwinden vermochte. Seinen unschätzbaren Beitrag zum Sieg im zweiten Weltkrieg leistete er durch die geniale theoretische Konzeption und den praktischen Ausbau des Leih- und Pachtsystem s, das für' alle Zeiten zu den gewaltigsten organisatorischen Geistestaten auf dem Gebiete zwischenstaatlichen Finanzwesens gehören wird und vielleicht d i e wichtigste Voraussetzung für den gemeinsamen Sieg über den Nationalsozialismus bildete. Durch die Schaffung des Sparzwanges im Empire hat Keynes mit dazu beigetragen, Großbritannien trotz seiner ungeheuren finanziellen .Inanspruchnahme während des Krieges vor den Folgen einer Inflation zu bewahren.

Mit gleichem unbändigen Eifer, mit einzig dastehender Urteilskraft und elastischer Verhandlungskunst legte Lord Keynes in den letzten Jahren im Vereine mit seinen hervorragenden Partnern in den Vereinigten Staaten von Amerika die Grundlagen der künftigen wirtschaftlichen und finanziellen Weltordnung, die auf dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank beruhen wird. Das Format seiner Persönlichkeit trat hie-bei besonders deutlich dadurch in Erscheinung, daß er es verstand, sein eigenes ursprüngliches Konzept, unter Wahrung der Lebensinteressen des Empire und seiner persönlichen Auffassungen von einer gedeihlichen Weltwirtschaft, soweit zurückzustellen, daß ein tragbares Kompromiß mit den zum Teil stark abweichenden Tendenzen seiner amerikanischen Partner erzielt werden konnte. Das Inslebentreten seiner letzten Schöpfung, des Vertrages über die große nordamenkanische Anleihe an Großbritannien, die nach Ausspruch amerikanischer Staatsmänner die Voraussetzung für das praktische Anlaufen des durch den Krieg vernichteten WeMiandels bildet, war ihm zu erleben nicht mehr vergönnt.

Lord Keynes gehörte keiner politischen Partei an, er hat stets ausschließlich seinem Land und seinen Idealen gedient, welche die gesamte Welt in sich schließen. Das Geheimnis seiner großen und originellen Persönlichkeit, deren Verlust von allen Parteien seines Vaterlandes, vom britischen Empire und, mit Recht, von der gesamten gesitteten Welt betrauert wird, findet wohl am besten seine Aufklärung in dem Bekenntnis, das Lord Keynes einmal selbst in folgenden Worten niedergeschrieben hat:

„Das politische Problem der Menschheit besteht darin, drei Dinge zu vereinen: wirtschaftliche Wirksamkeit, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit. Die erste erfordert Urteilsfähig-. keit, Vorsicht und fachliche Kenntnisse; die zweite Selbstlosigkeit, Enthusiasmus und Liebe zum einfachen Mitmenschen; die dritte Toleranz, Weitstirnigkeit und das Vermögen, die Vorzüge der Vielfältigkeit und der Unabhängigkeit zu schätzen, die vor allem das Außergewöhnliche und das Hochstrebende begünstigt.“

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