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England heute

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Brausender Verkehr am Piccadilly Circus „Queues“, das heißt Schlangen geduldig paarweise angestellter Menschen, Auslagen, denen Beschränkung sehr viel von ihrer Vorkriegsreichhaltigkeit genommen hat, sogar für unsere Begriffe unwahrscheinlich hohe Steuern, schöne elegante Frauen und stilvolle Herren bei den zum erstenmal seit Kriegsende wieder abgehaltenen Royal Gardenparties in London und bei den klassischen Rennen in Epsom und Ascot zerstörte Häuser, Wohnungsnot, Sorge um Gegenwart und Zukunft, überall aber. Liebenswürdigkeit, Frohsinn und die altgewohnte Höflichkeit. Das ist ein oberflächlicher Quersdinitt vom England von heute.

Verwirrt von so viel scheinbaren Gegensätzen, besinnt man sich erst wieder, wie sehr Englands wahres Wesen stets zum viel größeren Teil unter der sichtbaren Oberfläche als im Blickbereich zu finden war. Wie der Brite selbst oft ein wenig reserviert und konventionell erscheint, weil er zu scheu ist, sich unmittelbar zu geben und dadurch vielfach vollkommen falsche Vorstellungen auslöst, ist es erst recht sein Land. Der Begriff des Merry Old England, der so bestimmenden Einfluß auf die Entwicklung des europäischen Kontinents und der Welt nahm, liegt heute unter all dem Schutt begraben, den ein mit ungeheurer Zähigkeit und Kraftanstrengung sechs Jahre lang geführter Krieg zurückgehssen hat. England, der moralische Sieger dieses gigantischen Ringens, wil es in seiner Begriffswelt und seiner Lebensauffassung der stärkste ethische Widerpart gegenüber der Abwegigkeit des Nationalsozialismus war, macht den Eindruck eines Kämpfers, der sich im Entscheidungskampf über seine Kraft hinaus ausgegeben hat und nur langsam wieder seine Erschöpfung überwindet. Und darum erlebt es die Tragik, Sieger zu sein und wohl Lorbeern, aber keine Früchte geerntet zu haben.

•Sorgen über Sorgen erfüllen heute alle, denen Großbritanniens Wohl und Wehe am Herzen liegt. Die wirtschaftliche Krise, in der sich das Inselreidi befindet, ist noch nicht auf ihrem Tiefpunkt angelangt. Der Ausweg aus dieser schwersten Depression, die Großbritannien seit sehr langer Zeit erlebte, noch nicht deutlich erkennbar. Ungenügende Produktion für einen aufs höchste gesteigerten Export, der die fehlenden Werte herbeischaffen soll, mangelnde Kohlenförderung, die wohl das Kernproblem darstellt, können nur durch einen ähnlich forcierten Arbeitseinsatz überwunden werden, wie ihn alle Engländer während des Krieges freiwillig auf sich genommen haben. Die gleiche Partei, die in der Opposition 20 Jahre lang kurze Arbeitszeit propagierte, da die Umwertung der Produktionsüberschüsse nur den „Industriellen und Kohlenmagnaten“ zugute käme, hat heute die schwere Aufgabe nach einer im wahren Blitztempo erfolgten Nationalisierung eben dieser Produktionszweige mit allen Mitteln der Überredung, Englands Werktätige für das Gegenteil *u gewinnen. Das leuchtet dem einfachen Manne — und er ist es im eigentlidisten Sinne, der die britische öffentliche Meinung bestimmt — nicht ein. Elastisches Sichumstellen auf veränderte Notwendigkeiten sind keine typisch-britischen Eigenschaften. Frstaunt steht daher die Masse der Nation vor dem Paradoxon, daß sie jahrelang ihr Äußerstes an Leistung hergib, um heute auf einem Standard leben zu müssen, den sie nie kannte und der noch im Sinken be-;riffen ist.

Die praktischen Ergebnisse der Nationalisierung scheinen dem kühl und bedächtig wägenden Bewohner des Inselreiches daher vorläufig noch wenig überzeugend. Dazu kommt der im umgekehrten Tempo der Nationalisierung vor sich gehende Aufbau, vor allem der notwendigen Wohnungen, der sehr enttäuschend wirkt.

Auch die Empirepolitik des Regimes, besonders im Mittelmeerraum und in Indien, begegnet der oft ganz unenghsch temperamentvollen Kritik weitester Schichten. Churchills schonungsloses Wort vom ..Ausverkauf des Empires“ hat sehr starken Widerhall gefunden und viel dazu beigetragen, den Durchschnittsengländer über die Sorgen und Interessen seines Alltags hinaus für weiterliegende, aber da'um nicht weniger entscheidende Probleme zu interessieren. Die Komplikationen und elektrischen Spannungen der Weltlage, die Machtentfaltung der beiden anderen Weltmächte, Rußland und Amerika, bedeuten schwere Sorgen für das ehrwürdige Empire. Die Kritik ist von oft ungewohnter Heftigkeit und findet viel unmittelbareren' Ausdruck als früher.

Von unten herauf organisch wachsend, wie das für dieses klassische Land wahrer Demokratie immer charakteristisch war, ist vor allem in den letzten Monaten die Überzeugung in England Allgemeingut geworden, daß der Kampf um seine Zukunft als Weltmacht neu ausgekämpft werden muß. Das Insclreirh erwacht aus seiner Erschöpfung, es weiß, daß es wieder aktiv zu handeln hat, eine in der Beschränkung und Resignation liegende Passivität kein Heilmittel für seine Schwierigkeiten darstellt.

Daß jener Ermüdungszustand die tief im Inneren dieser wahrhaft großen Nation ruhenden Kräfte nicht angegriffen hat, wird jedem klar, der die überraschend unveränderte innere und äußere Haltung des Engländers auf sich wirken läßt. Krise, Beschränkungen, Enttäuschungen und nervliche wie physische Rejnspruchungen haben der Struktur des, britischen Charakters nichts anhaben können. Fairneß, Verläßlichkeit, Anständigkeit, Hilfsbereitschaft und all die anderen Eigenschaften, die England groß gemacht und groß erhalten haben, be-gesrten dem kontinentalen Gast auch heute auf Schritt und Tritt im Alltagsleben. Immer noch kann es sich der Engländer leisten, in jedem Fremden so lange einen Gentleman zu sehen, bis dieser ihm das Gegenteil beweist, und immer noch ist nichts so irreparabel als getäuschtes Vertrauen, Hochstapelei — für die es typischer Weise nicht einmal einen englischen Ausdruck gibt — und Unanständigkeit. In ihrer großen eifersüchtig gepflegten Tradition liegt die Quelle der steten Wiedererneuerung der britischen Nation.

Aus seinen immanenten Kräften heraus wird England — das empfindet der aufmerksame kontinentale Beobachter vielleicht noch sicherer als der Engländer selbst — den Weg zu sich und seiner für Europa so schicksalhaften Bedeutung wieder zu finden wissen. ./

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