Mensch sein in Zeiten der Unmenschlichkeit

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Im Oktober 2013 findet am Wiener Burgtheater - im Gedenken an das Novemberpogrom von 1938 -die Premiere des Dokumentarprojekts "Die letzten Zeugen" statt. Lucia Heilman, eine Holocaustüberlebende, ist eine der sechs ZeitzeugInnen, die hinter Gazeschleiern auf der Bühne sitzen, während ihr Schicksal erzählt wird.

Ihre Überlebensgeschichte, die sie der Zivilcourage und dem Mut eines Freundes der Familie verdankt, hat der österreichische Autor Erich Hackl nun in seinem neuen Werk aufgezeichnet. Er hat die Ereignisse von damals nach den Erinnerungen Lucia Heilmans behutsam und sensibel kartografiert und so vor dem Vergessen bewahrt. "Reinhold ist der Held meiner Geschichte. Nur seinetwegen erzähle ich sie." Dieses Zitat Lucia Heilmans ist dem Band, einer "Heldengeschichte" also, als Motto vorangestellt und unterstreicht zugleich die Intention des Textes. Denn einerseits dokumentiert Hackl das unerschrockene und zugleich lebensgefährliche Handeln des Kunsthandwerkers Reinhold Duschka, andererseits steckt in dieser Geschichte aber auch, wie er betont, unmittelbare Aktualität, nämlich in "einem unterschwelligen Appell für Handeln, Treue, Nichtwegschauen" in einer politisch brisanten Zeit.

Eine Überlebensgeschichte

Bereits seit Jahren stellt Erich Hackl seine Werke beharrlich in den Dienst der Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungsarbeit. Unbeirrt geht er vergrabenen Spuren von Gewalt, Unterdrückung und Mord nach, die mit dem Schicksal von Menschen verknotet sind, weil sie Opfer eines Gewaltregimes geworden sind. Zuletzt hat er seinen dokumentarischen Zugang zur Literatur im Spiegel seiner poetologischen Vorstellungen in seinen Innsbrucker Poetik-Vorlesungen "Literatur und Gewissen" dargelegt. Hackls jüngste Prosa ist -und das ist in seinen Werken aufgrund der Thematik eher selten der Fall -eine mit hoffnungsvollem Ausgang, eine Überlebensgeschichte, deren glückliches Ende mit dem Rückgrat und Wagemut eines Menschen zu tun hat, der mit seinem Widerstand das eigene Leben riskiert. Den Stoff hat man an Hackl herangetragen, und zwar direkt aus dem Umfeld Lucia Heilmans.

Der Berliner Reinhold Duschka, ein leidenschaftlicher Bergsteiger, Eigenbrötler und zugleich der Held der Geschichte, war in der Zwischenkriegszeit der beste Freund ihres Vaters. Lucia Heilmans Familie mütterlicherseits, die jüdischer Herkunft ist, flüchtet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus "einem Dorf nahe Trembowla" nach Wien. Lucias Großvater, einem "ehemaligen Gutsbesitzer", gelingt es damals nicht, in der neuen Stadt Fuß zu fassen. Dennoch ermöglicht er seinen drei Kindern ein Studium. In den Fokus rückt hier besonders seine Tochter Regina, Lucias Mutter, die nicht nur sehr sozial, sondern auch gesellig ist und als "Gravitationszentrum" einen großen, "halb pazifistisch, halb kommunistisch" gesinnten Freundeskreis um sich schart. Irgendwann taucht in dieser Runde schließlich auch Reinhold Duschka auf.

1938 ändert sich die Situation jedoch plötzlich fundamental. Regina, eine Chemikerin, die in einem Krankenhauslabor endlich Arbeit gefunden hat, wird entlassen. Die Familie gerät sukzessive in Gefahr. Den Großvater transportiert man vor den Augen seiner Angehörigen ab. Ein paar Tage später erhalten sie die Todesmeldung. Regina wird schlagartig klar, dass sie einen Weg suchen muss, um Lucia und sich in Sicherheit zu bringen. Der Vater ihrer Tochter -sie sind nicht verheiratet -hat sich in seiner Firma um einen "Auslandseinsatz" bemüht. Ein Nachholen der beiden wird mit Ausbruch des Krieges unmöglich. Alle Fluchtmöglichkeiten zerschlagen sich; systematische Judendeportationen versetzen Regina in Angst und Schrecken. Erst jetzt zieht sie Reinhold Duschkas Angebot, sie und ihre Tochter in seiner Werkstatt zu verstecken, ernsthaft in Erwägung: "Sie weiß ja, was für ihn, für sie, für Lucia auf dem Spiel steht." Duschka hat sich schon Jahre zuvor "im sogenannten Werkstättenhof eingemietet", der "zwischen Linker Wienzeile, Hornbostelgasse und Mollardgasse errichtet worden war". Nun gilt es, ihre Habseligkeiten dorthin zu schaffen und sich auf unbestimmte Zeit in diesem Versteck einzurichten.

Alltag im Versteck

Präzise bringt Hackl eine Chronologie in die Erinnerungen Lucia Heilmans. Gelegentliche Vorausdeutungen, Vermutungen und Feststellungen oder die Wiedergabe einzelner Erinnerungen im Konjunktiv markieren die Präsenz einer ordnenden auktorialen Erzählerinstanz. Unmissverständlich wird klar, was es eigentlich bedeutet, sich auf dieses waghalsige Unternehmen, Verfolgte zu verstecken, einzulassen. Natürlich ist es nicht damit getan, bloß Essen heranzuschaffen, obgleich es schwer genug ist, mit einer Lebensmittelkarte drei Personen zu versorgen. Die Verantwortung, die man übernimmt, ist groß, da man in einem Versteck oft mit ungeahnten Problemen konfrontiert ist. Lucia wächst plötzlich aus ihrem Gewand heraus. Wie kann man, ohne aufzufallen, Kleidung besorgen? Wie erleichtert man den Tagesablauf der Untergetauchten, ohne dass sie ob der Angst und Eintönigkeit psychischen Schaden nehmen? Und schließlich ist da auch die Gefahr plötzlicher Krankheiten oder Bombardements.

Diese Überlebensgeschichte zeigt nicht nur die unmittelbaren existenziellen Probleme Verfolgter, sondern nimmt auch ihr Weiterleben ins Visier. Der Blick auf die Zeit danach offenbart, wie schwierig sich das Dasein "unter ehemaligen Nazis oder Nazimitläufern" gestaltet. Hackl hat sorgfältig recherchiert und die Puzzleteile in einen größeren Zusammenhang gestellt. So dokumentiert er auch Lucias weiteren Weg und ihr konsequentes Bemühen, Reinhold Duschka eine Auszeichnung zukommen zu lassen. Nie spricht er über die Vergangenheit, gegen Ehrungen wehrt er sich, selbst seine Familie weiß lange nichts davon. Geblieben sind die "Sehnsucht nach Nähe und das Bedürfnis, die Welt zu verändern". "Es war für Dich selbstverständlich, daß Du in einer Zeit der Unmenschlichkeit Deinen Anspruch als Mensch gelebt hast", heißt es im Nachruf eines Freundes über ihn. Welch Glück, dass diese Geschichte gerade in Erich Hackls Hände gelegt worden ist!

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