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Mit einem Schuß TV

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Ingrid Nolls neuer Roman „Kalt ist der Abendhauch” steht auf vielen Restseilerlisten. Kein Zweifel, daß das Thema viele Interessierte findet in einer immer älter werdenden Gesellschaft: die Altersliebe. Die achtzigjährige Charlotte hat das Glück, und gleichzeitig die Verlegenheit, ihren nun neunzigjährigen früheren Freund zu treffen. Rüstig, wenn auch etwas bang, zieht man zusammen. Eine bunte Schar von Kindern und Kindeskindern ist hilfreich zur Stelle beim gewagten Unternehmen. Das Spiel könnte eine Komödie werden, ein Trauerspiel, oder ein ernsthaftes Stück über das Dritte Alter. Doch die Autorin will nach dem Muster vieler Fernsehserien alles zugleich haben, allen etwas anbieten. Zudem durchzieht das Ganze eine Kriminalgeschichte, witzig, tragisch, schauerlich - wie man will. Ein Genre, das Ingrid Noll virtuos beherrscht. So ist der Zeitgeschmack breit gestreut getroffen, der Restseller fast berechenbar.

Die einzelnen Sequenzen sind fesselnd. Zwei Alte blicken auf das Jahrhundert zurück, von der Titanic bis zur Turnschuhzeit. Ein Sittengemälde von vier Generationen entsteht, genau gemalt in den gewählten Ausschnitten der Kleinbürger-Geschäftswelt einer deutschen Mittelstadt. Als Seitenthemen erscheinen tragische Figuren, ein transsexueller Rruder, ein Draußen-vor-der-Tür-Ehemann und eine kleptomane Enkelin aus einem früheren Roman. Letztere taucht mit ihrem ganzen Personal auf, detailgetreu bis hin zum Hund, der einen beim Wiedererkennen sozusagen anwedelt. Man schmunzelt und möchte heimisch werden in einer großen Romanserie, die da wohl langsam im Entstehen ist.

Doch immer wieder stört etwas den Lesegenuß. Charlotte ist zwar nicht so mordrünstig wie manche ihrer Romanvorgängerinnen, aber ihre Ironie ist zu oft verletzend. Rlitzschnell ist hinterrücks eine denunzierende Vokabel da-über den Freund, den Mann und sogar den geliebten Enkel. Nollsche Figuren leiden an diesem Charakterfehler, daß sie selbst ihre Nächsten zum Publikum hin verraten. Charlottes Sprache ist klar und hat guten Rhythmus. Doch auch sie verrutscht gelegentlich ins Ordinäre; ans schöne Kleid drapiert sie billige Ef-fekt-Anstecker. Und in den Reflexionen über Liebe, Treue, Tod übernimmt sich die Ich-Erzählerin, wenn sie versucht, ins Allgemeine vorzudringen. Ranales wird im Sortiment behalten; auch dies ein Zug der Fernsehserien.

Die beiden Alten finden also keinen Frieden. Der Neunziger hält den Streß nicht durch und kommt nach ein paar Wochen reduziert ins Pflegeheim. Charlotte schließt erleichtert: „Es ist angenehm, wieder allein zu sein ... Ich träume zwar noch jede Nacht von ihm, aber auch das wird sich legen.” Kalt ist der Hauch dieses Lebensabends, aber ein großes Publikum schätzt offenbar das Herbstlich-Herbe.

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