Geschichten überlagern sich oft wie Sedimente. Aus einem einzigen Material entstehen die . wunderlichsten Formen, verdichtet von Erzählern, gefaltet von Jahrhunderten, verschüttet vom Vergessen. Ein Anschnitt kann wie ein Canyon die Geschichte der Geschichten freilegen. Die oberste Schicht legen wir selber auf, wenn wir uns als Begeisterte an der Überlieferung beteiligen.Ein neues Buch des Haymon-Verlages geht auf so eine Canyon-Begei-sterung des Dichters Raoul Schrott zurück. Als Kind war er beeindruckt vom Buch „Unbekannte Sahara” des Wüstenforschers Almäsy, geschrieben 1939. Zwei
Es nicht allzu ernst zu nehmen, sondern locker, und lieber lachen als sich anscheißen” ist der Rat Andreas Tiefenbachers an allenfalls Betroffene, wenn sie seinen Roman „Herzkot” lesen. Es ist der zweite Roman Tiefenbachers (geboren 1961 in Bad Ischl) nach „Der Möcht-ler” (1995), und diesem eng verwandt.Ernst zu nehmen ist einiges an diesem weiteren „Stück Heimatliteratur” (Klappentext). Das Dutzend Menschenschicksale einer Arbeiterfamilie, die seit drei Generationen im obern Trauntal'siedelt. Die reichliche Bekanntschaft, die Dorfgrößen, der Kommunist, der Lehrer, die
Andreas Karner, Jahrgang 1960, sammelt, was er hört und sieht, steckt es scheinbar wahllos in ein Buch: Gesprächsfetzen, Meldungen, Beobachtetes. Fast immer sind es Mikrodialoge aus dem Alltag, nur durch Übertragung ins Schriftdeutsch stilisiert. Sprechanlaß kann eine Banalität sein, zwei, drei Sätze lang geht es gut, dann folgt der Umschlag ins Skurrile, ins Aneinandervorbei, ins Aggressive oder offen Bösartige. Man redet beim Zahnarzt, im Stiegenhaus, im Schlafzimmer, am Telefon. Immer abruptes Ende, permanent scheiternde Verständigung.Davon sind an die 50 Stücke versammelt, zu
Dem Leben trauen ” ist ein Buch über die Kunst des Lebens. Bezeichnenderweise wurde es nicht von einem Lebenskünstler geschrieben, der sein System verkündet, sondern von einer selber nur mit Not überlebenden Arztin, die ihre Erfahrung wie ein Vermächtnis weitergibt.Rahel Remen, Jahrgang '38, Amerikanerin jüdischer Herkunft, war Kinderärztin im Gleis der sogenannten Schulmedizin, bis sie an deren Prellböcke stieß. Apparate und Chemie um jeden Preis, Distanz zum Patienten als oberstes Gebot, Expertengeheimnistuerei: „In gewisser Weise ist das Medizinstudium selbst eine Art
In manche Bücher tritt man wie in eine Ausstellung. Man ist dann nicht in einem fertigen Gebäude, sondern in einem Atelier, wo vielerlei zur Ansicht steht. Die Zusammenschau bleibt dem Betrachter überlassen. Der amerikanische Autor Ron Hansen, Jahrgang 1947, macht mit dem Buch „Atticus” gewissermaßen seine Werkstatt zugänglich. Romanteile sind, wie zur Probe, vorläufig aufgestellt. Der Leser kann sich, nach einem ersten Durchgang, von Verschiedenem weiter anziehen lassen.Da ist die starke und schmerzliche Vater-Sohn-Liebe. Der Vater Atticus eigenbrötelt auf seiner Ranch in Colorado,
Heiko Michael Hartmanns Erstlingsroman ist todernstes Kabarett. Das MOI-Virus - Mala-die d'Origine Inconnue - verbreitet sich mit den neuen Euroscheinen und fordert bald die ersten Opfer. Die Befallenen dunsen auf, verlieren alle Gliedmaßen, entarten zu denkenden Ballonen, verpuffen am Ende rückstandsfrei. Zu lachen gibt es dabei nichts.Oder eben doch, denn das Schauerliche wird nur in der Groteske erträglich. Protokolliert vom Erzähler-Ich, ist der Fortgang des Verfalls in straff gereihten Sketchen arrangiert: Rousseau und Goethe zu Besuch, Fernseh-terror im Mehrbettzimmer, Damenbesuch
Literaturpreise sind sensible Anzeiger für Autoren, den Zeitgeschmack, aber auch für atmosphärische Zusammenhänge.Steven Millhauser hat kürzlich den Pulitzer-Preis für Relletristik erhalten. Auf deutsch gibt es nur seinen letzten, nun preisgekrönten Roman „Martin Dressler - Ein amerikanischer Träumer”. Der Verlag hatte rechtzeitig klimatisches Gespür.Der Autor, Jahrgang 1943, ist Professor für Englisch an einem East-coast-College. Sein erster Roman erscheint 1972, zwei weitere und Short Stories folgen. Ein überschaubares Werk. Die amerikanische Kritik ist zurückhaltend, sie
Thomas Rotschild, Jahrgang 1942, ist Österreicher und arbeitet in Stuttgart als Kulturkritiker. Jetzt liegt ein Band mit 30 Aufsätzen aus der Zeit von 1973 bis 1995 vor. Es geht um Literatur, Theater, Film, Medien, und den deutschsprachigen Kulturbetrieb mit einem Äuge auf Österreich und dem ehemaligen habsburgischen Osten.Kulturkritik als Obertitel ergibt sich erst im nachhinein. Die Sammlung umfaßt viele Genres. Am angenehmsten zu lesen sind die Hommagen an Milan Kundera (ein langes Hörfunkporträt von 1985, genau, einfühlsam, liebevoll), an Vaclav Havel (über das Theater des
In der Märchenwelt gibt es unzählige private Figuren und nur wenige politische. Ihre volle Wirksamkeit entfalten sie erst als Legenden. Till Eulenspiegel ist im deutschen Sprachaum ihr Prototyp, Hod-scha Nasreddin im islamischen. Ihre Geschichten leben noch und werden weiter fortgesponnen; die mündliche Tradition hat nie aufgehört, auch wenn sie schriftlich festgehalten wird.Beispielsweise bei Folke Tegetthoff, dem steirischen Märchenerzähler. Till und Hodscha sind bei ihm schon früher vorgekommen, in seinem jüngsten Buch „Schelmenmärchen” sind sie nun ganz unter sich. Sie treten
Es gibt Glücksbücher, die auf den Leser tiefer wirken als übliche Produkte der literarischen Kultur: Heilige Texte, Kultbücher, Märchen. Jeder Lesende wird früher oder später ein derartiges Glücksbuch gefunden haben, das ihm dann Zuspruch spendet, vielleicht lebenslang.Vom brasilianischen Autor Paulo Coelho, Jahrgang 1947, ist jetzt auf deutsch „Der Alchimist” erschienen, ein acht Jahre altes, schmales Buch, unscheinbar in der Bubrik Boman. Ich lese es als Glücksbuch. Und mit mir wohl bereits vier Millionen andere Leser, wie sonst sollte man seinen Erfolg verstehen? Es hat nichts
Historische Romane sind oft Übungen, wie Hermann Hesse sie empfiehlt: Der Schreiber komponiert sich in eine Epoche hinein, um dort sich selbst oder sein Anliegen vorzustellen.Die beiden hier besprochenen Romane sind dieser Art. Beide Autoren sind Franzosen, beide Schauplätze sind habsburgisches Europa, und die Epochen berühren sich. „Der Tod zu Wien“ handelt im Pestjahr 1679, „Farinelli“ fällt, kurz später, in Kaiserin Maria Theresias Lebenszeit. Barock die Kulissen, doch zeitlos die eigentlichen Themen.Farinelli (1705-82), der Opernstar der Zeit, hält Rückschau auf sein Leben.
Ingrid Nolls neuer Roman „Kalt ist der Abendhauch” steht auf vielen Restseilerlisten. Kein Zweifel, daß das Thema viele Interessierte findet in einer immer älter werdenden Gesellschaft: die Altersliebe. Die achtzigjährige Charlotte hat das Glück, und gleichzeitig die Verlegenheit, ihren nun neunzigjährigen früheren Freund zu treffen. Rüstig, wenn auch etwas bang, zieht man zusammen. Eine bunte Schar von Kindern und Kindeskindern ist hilfreich zur Stelle beim gewagten Unternehmen. Das Spiel könnte eine Komödie werden, ein Trauerspiel, oder ein ernsthaftes Stück über das Dritte
Büchern geht es oft wie Bittstellern, jahrzehntelang müssen sie ohne erkennbaren Grund vor einem Sprachraum warten. „Der heulende Müller” des Finnen Arto Paasi-linna, geschrieben 1981, erscheint erst jetzt bei uns. Wie wird man den Fremden hier nun aufnehmen?Ein Fremder taucht eines Tages in einem lappländischen Dorf auf, kauft gegen allen ökonomischen Verstand die verfallene Mühle und bringt sie mit Geschick und Zähigkeit zum Laufen. Das Dorf sieht den Fortschritt gern. Aber der Einzelgänger hat seine Eigenheiten: er heult wie ein Wolf im Wald, was alle, von den Hunden bis zum
Der Schüttelreim ist ein seltsames Phänomen: die Sprachstruktur liefert die Möglichkeiten, der Spieltrieb findet sie heraus, und nur die Witzigkeit setzt dann die Maßstäbe.In einem kleinen Rand des Wiener Schauspielers Miguel Herz-Kestra-nek ist ein halbes Tausend davon versammelt, hübsch sortiert wie Nummern eines Kabaretts: Politisches, Jüdisches, Erotisches und so fort. Als Autoren zeichnen zwanzig Wohlbekann -te, meist Wiener, vom Kammerschauspieler über die Kolumnistin bis zum Neurologen. Der Leser, in Stammtischnähe zu den Podiumsgrößen, hat kleine Psychogramme vor sich: der
AuchCinder sind umstellt vom Ernst des Lebens. Sie haben, im Normalfall, Mittel, damit umzugehen. Doch auch die freieste Erziehung muß helfend eingreifen, wo Übergriffe stattfinden, gegen die das Kind keine Mittel hat. Sexueller Mißbrauch ist ein solcher Ubergriff.Katrin Meier und Anette Bley machten ein Bilderbuch mit kleinen Texten zu diesem Thema, Vierjährigen angemessen. Die Szene ist realistisch: Mutter, Töchterchen, Stiefvater, alle drei im festen Netz ihrer Bedürfnisse und Loyalitäten. Man liebt einander, der Stiefvater ist durchaus nicht der Böse; die Welt ist in Ordnung wie
Parodie wäre zuwenig, Liebesgeschichte zuviel über dieses Buch gesagt. Parodie würde die Federleichtigkeit andeuten, mit der hier von Liebe geschrieben wird. Doch Liebe tritt auch so ausfällig auf, daß sie drei Leichen und einen Schwerverletzten hinterläßt. Also ein Fall zwischen leicht und schwer, kunstvoll changierend zwischen. Amüsement und Ergriffenheit.Ein amerikanischer Vogelfetischist aus dem Ostküsten-Collegemilieu fliegt beim Versuch, eine Gans handfest zu vergewaltigen, von der Universität. Derart aus der Bahn geraten, geht er nun seiner erotischen Neigung auf einer Insel
Zum 100. Geburtstag von Jiddu Krishnamurti (1895-1985) wurden zwei Bücher des großen I^ehrers neu aufgelegt. Wer ihn kennt, wird sich freuen, wer ihn nicht kennt, könnte sich, auf ein paar Stichworte hin, für ihn interessieren.Der Lebensweg ist abenteuerlich. Als Dreizehnjähriger wird er, am Strand von Madras spielend, von einem der Führer der Theosophischen Gesellschaft in einer Vision entdeckt: die Aura des Jungen zeigte seinem Entdecker, daß es sich um den erwarteten Weltenlehrer handle. Annie Be-sant, die Führerin der Gesellschaft, adoptiert ihn, läßt ihn in England erziehen,
Ich heiße Tristan Smith. Ich bin in Efica geboren”. So stellt sich ein 23jähriger höflich vor, der sein Leben mitteilenswert hält. Sofort zeigt sich das Talent des jungen Mannes: man hört ihm zu. Und geschickt holt er im zweiten Satz aus: „Sie müssen ein wenig über mein Land wissen.” Es ist ein Phantasieland „Efica” auf der Südhalbkugel, ehemalige Kolonie, mit eigener Zeitrechnung, sie schreibt das Jahr 421. Dazu ein nördliches Kontrastland, wirtschaftlich und strategisch weltweit dominant. Die Chiffrierung ist durchsichtig, der Autor ist Australier und lebt in New York. Der
Von Walter Vogt (1927-1988), dem Schweizer Arzt, Psychiater und Schriftsteller, ist nun der vorletzte Band der zehnbändigen Werkausgabe erschienen. Der Roman „Vergessen und Erinnern" wurde 1980 erstmals veröffentlicht; es lohnt sich, sich seiner zu erinnern.Es geht um den bekannten Teufelskreis Sucht-Kur-Heilung-Rückfall mit seinem gefährlichen Nebenausgang Therapiesucht. Am Eingang stehen hier eine Prädisposition des Erzählers, ein Unfall sowie eine ärztliche Entdeckerneugier, die Vogt in die Abhängigkeit von harten Drogen führen. Dieselbe Neugier arrangiert auch die