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Walter Vogts Genesungsgeschichte
Von Walter Vogt (1927-1988), dem Schweizer Arzt, Psychiater und Schriftsteller, ist nun der vorletzte Band der zehnbändigen Werkausgabe erschienen. Der Roman „Vergessen und Erinnern" wurde 1980 erstmals veröffentlicht; es lohnt sich, sich seiner zu erinnern.
Es geht um den bekannten Teufelskreis Sucht-Kur-Heilung-Rückfall mit seinem gefährlichen Nebenausgang Therapiesucht. Am Eingang stehen hier eine Prädisposition des Erzählers, ein Unfall sowie eine ärztliche Entdeckerneugier, die Vogt in die Abhängigkeit von harten Drogen führen. Dieselbe Neugier arrangiert auch die Entziehungskur und findet schließlich einen Ausweg aus der Falle.
Eine wesentliche Selbsthilfe ist dabei das Schreiben. Der Roman beginnt mit dem Schlüsselsatz: „Ich schreibe also wieder". Später wird dann erklärt: „Erinnern, wie man es aufschreiben kann, heißt immer auch vergessen, wie es war". Das ist die Idee des Titels und das ist die Formel, nach der der Autor sich vom ihn Bedrängenden befreit.
Die Umstände sind mehrfach interessant. Einmal ist der Ort des Ge-
schehens genau die Klinik am Neu-enburger See, die Dürrenmatt als Szenerie für seine „Physiker" gewählt hatte. Zum andern erinnert vieles an den „Zauberberg", wo ein für allemal das Verführerische und Süchtigmachende solcher Anstalten festgehalten ist. Schwindsucht oder Psychose: die Mechanismen der Behandlung unterscheiden sich nur oberflächlich. So Wesentliches wie das immer gespannte Patient-Arzt-Verhältnis bleibt gleich. Es geht um „mein Leben, das mir nicht mehr gehört, in das jedoch ich gehöre und das ich zurückhaben möchte wie einen liebgewordenen verlornen Gegenstand".
Durch die Krankheits- und Therapiegeschichte des Buchs zieht sich eine ganz andere Genesungsgeschichte, vielleicht sogar die eigentliche. Unter den Patienten ist Tiff, ein Neunzehnjähriger, mit dem sich der fast Fünfzigjährige befreundet. Der Ältere wird von der Anmut und dem Flötenspiel des Jüngeren verzaubert, es ist ein Blitzschlag. Er wirbt um den Jungen'und um seine Zuneigung.
Das Wunder geschieht, daß dieser angstlos darauf eingeht. Liebe stellt sich ein, lautlos, wechselseitig. Die beiden bleiben trotz des Zaubers nüchtern: der Alte ordnet die Launen des Jungen richtig ein, und der Junge
macht sich über die paar Wochen dieses kleinen Paradieses hinaus keine Hoffnungen. Das Wunder kann sich durchsetzen gegen die vielfältigen Bedrohungen. Sie finden den rechten Abstand zueinander, nicht zu heftig, nicht zu scheu. Sie spielen, reden, träumen miteinander.
In den Wachzeiten zwischen den Delirien ihrer schweren Kuren treffen sie sich wie Häftlinge beim Umgang und schieben sich verstohlen die Kassiber zu. Jeder ahnt, daß im andern weit mehr steckt, als was das schwache Wrack ihm gegenüber zu erkennen gibt: ein Künstler mit einer verschütteten Kraft der Poesie. So heilen sie sich gegenseitig, ohne es zu merken.
Der Alte kehrt schließlich in seine Arbeits- und Familienwelt zurück. Vom unheilbaren Jungen heißt es unbestimmt: „Tiff ist ausgetreten aus der Klinik. Ich habe ihn nie mehr gesehen". Das Stück endet schwebend mit dem schönen Satz: „Ich spüre, es ist etwas Sanftes, Gewaltiges mit mir geschehen. Aber ich weiß nicht was."
VERGESSEN UND ERINNERN
Roman von Walter Vogt
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 1996
210 Seiten, geb., öS 287-
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