6661002-1960_06_11.jpg
Digital In Arbeit

Polonaise oder Totentanz?

Werbung
Werbung
Werbung

POLONAISE ALLERHEILIGEN. Roman. Von Tadeusz Nowakowski. Verlag Kiepenheuer und Witsch.Köln-Berlin 1959. 400 Seiten

Der Titel „Polonaise Allerheiligen“ ist eine Irreführung. Genauer- eine fromme Lüge. Der polnische Originaltitel des vorliegenden Romans lautet „Oböz wszyskich Swietych“ — „Lager Allerheiligen“. Aber Bücher, in deren Titel das Wort „Lager“ oder „Baracke“ vorkommt, die also den faulen Atem von Krieg, Hunger und Nachkrieg ausströmen, verkaufen sich schlecht im deutschen Sprachraum in den Tagen von Herrn Neon-Biedermeier. Das wußte man bei Kiepenheuer und Witsch sehr wohl. Und deshalb griff man zu einem kleinen Trick. Im Interesse der Verbreitung des Werkes des im Exil lebenden, polnisch schreibenden Tadeusz Nowakowski sei er gestattet. Aber: wer die feurigen Takte einer Polonaise erwartet, muß zwangsläufig enttäuscht werden. Es sind eher die schleppenden Schritte eines großen Totentanzes, die an uns vorüberziehen.

Der Schauplatz ist Papenburg Ein kleines Städtchen im Moor, nahe der deutsch-holländischen Grenze. Und ein Lager vor der Stadt. Hier war der polnische Leutnant und Kämpfer im Warschauer Aufstand 1944, Stephan Gregortschik, Gefangener. Hier lebt er auch noch Jahre nach dem Ende des Krieges als DP. Displaced person: das war sein und vieler seiner Landsleute Schicksal, als Hitler in Polen von Stalin abgelöst wurde. Dasselbe Lager, dieselben Baracken, nur tragen sie jetzt statt Nummern Heiligennamen — ein Einfall des Feldkuraten Henias. In der Baracke Allerheiligen beginnt die Tragödie des Stephan Gregortschik. Hier endet auch wieder der Weg eines Menschen, der allen Phrasen und jedem falschen Pathos abhold ist, der den deutschen Nationalismus in seinen Repräsentanten ebenso glühend haßt, wie er auch seinem Gegenstück unter polnischen Feldzeichen entgegenzutreten vermag. Aber der Versuch, über den großen blutigen Schatten der Vergangenheit zu springen, mißlingt. Die Ehe mit der Deutschen Ursula Heinemann — ihre Mutter spielte als Operettendiva in Bromberg seinerzeit eine Rolle im Leben von Gregortschiks Vater — mißlingt. Gregortschik verläßt seine Frau im Morgengrauen, als gerade ein Pulk Flieger über dem Städtchen dahindröhnt und eine Sirene aufheult. Es sind englische Flieger, und die Sirene gehört zu einem amerikanischen Militärjeep, dessen Fahrer sie aus purem Übermut betätigt; aber auf dem Kalender steht der 1. September 1939 — der Tag des deutschen Angriffs auf Polen. Der Leutnant kehrt in das graue Lager zurück.

Das alles ist mit feinstem psychologischem Verständnis komponiert. Ein Glied schließt sich logisch in das andere zu der unentrinnbaren Kette einer echten Schicksalstragödie. Tadeusz Nowakowski schenkt den Deutschen nichts und erspart seinen polnischen Landsleuten wenig. Sein starkes, realistisches Erzählertalent kommt ebenso in den mit epischer Breite erzählten Szenen von dem Leben in Bromberg in den Jahren zwischen den Kriegen zur Geltung wie in den mit dramatischer Wucht vorgetragenen Visionen vom Format eines Höllen-breughels: das Massaker unter der polnischen Bevölkerung von Bromberg nach dem deutschen Einmarsch und die Nacht der Anarchie in Papenburg, als die Gefangenen 1945 rachedurstig aus dem Lager ausbrechen.

Man sieht. Nowakowski versteht abzuwägen. Er macht es sich nicht leicht. Und auch den Lesern des Jahres 1960 nicht.

Gerade deshalb soll man zu seinem Buch greifen. Der Schönredner und Geschichtsverharmloser — Vorboten der Geschichtsfälscher — sind sowieso schon zu viele.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung