Südtirol ohne Verklärung

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Der neue Roman von Joseph Zoderer.

Die letzte Reise eines Mannes, getrieben von stechendem Kopfschmerz, der seinen Aufenthalt in Sizilien zur Reise in die Vergangenheit werden lässt. Beklemmend ab dem ersten Satz, aber getragen von Joseph Zoderers typischer, den Leser sofort in ihren Bann ziehenden Erzählkunst. So präsentiert sich "Der Schmerz der Gewöhnung", der neue Roman des in Meran geborenen, in Terenten lebenden Autors.

Jul ist ein deutschsprachiger Südtiroler mit einer halb italienischen Frau, Mara, deren faschistischer Vater einst Südtirol italianisieren sollte. Er fährt nach Agrigento, der Geburtsstadt seines Schwiegervaters, um durch die Auseinandersetzung mit dessen Herkunft doch noch eine Brücke zu seiner Frau zu schlagen. Eigentlich ist es der Versuch der Aussöhnung mit dem Italienischen in ihm, denn der Spannungsbogen zweier Kulturen hat Juls Leben bestimmt. Wie schon in "Das Glück beim Händewaschen", wo Zoderer beschreibt, wie ein Junge in ein von katholischen Patres geleitetes Internat verschlagen wird, sind auch hier persönliche Erfahrungen eingearbeitet.

Auch Jul verbringt einen Teil seiner Jugend in einem katholischen Internat. Seine Kindheit ist von Armut gezeichnet, der Vater lange ohne Arbeit, weil er sich weigert, seinen Namen zu italianisieren. Jul lernt früh, auf eigenen Beinen zu stehen, kommt viel herum und lebt auch eine Zeit in Wien, wo er sich in der deutschsprachigen Kultur und Literatur zuhause fühlt. Auch Maras Vater stirbt früh, wie der ihres Mannes, aber sie wächst sehr behütet auf, denn ihre italienische Familie ist groß und vermögend.

Seit dem Jahre zurückliegenden Tod der Tochter fühlt Jul sich von ihr abgeschnitten, war "ein Zeittöter geworden, langweilte sich nie. Konnte stundenlang in einem Raum hocken, liegen, herumlaufen, er lebte, phantasierte, zerkaute Erinnerungen. Auf seinen Bergspaziermärschen, die ihn oft anödeten, weil sie Tag für Tag die Gleichen waren ... Herrlicher Schnee. Polsterschnee. Sauberer Schnee. Frischer Schnee. Alles schneeweiß. Auch die Eschen weißgepolstert und die Haselstangen weißpelzig und die ewig weihnachtlichen Fichten und die glitzerig-weißen Föhrenzweige und alle seine bösen Erinnerungen, mit ihren Spaghettiwurzeln, ihren Kaktusschlupfwinkeln. ... Und im Spiegel: sein Blick, sein aufgesperrter Mund. Der Wolf, wie er sich sah in wiederholten Träumen. ... Jetzt war er nur mehr Wolf. Sank auf die Knie und stieß seine Nase in die Senke."

Jul führt die Kluft immer mehr auf kulturelle Unterschiede zurück. Die Geschichte der Familien, die vor seinem inneren Auge abläuft, ist eine Chronik seiner Heimat. Zoderer arbeitet mit komplizierten Verzahnungen der Familiengeschichten (ihre steht für das Mussolini-geprägte Italien, seine für das deutsche Südtirol), von Gegenwart und Vergangenheit. Ohne Personen und Handlungsrahmen aus den Augen zu verlieren, läßt der Autor ein Bild seiner Heimat entstehen. Mit viel Sympathie, aber ohne Verklärung beschreibt er Südtirol während der zwei Weltkriege, in den sechziger und siebziger Jahren, bis zur Gegenwart.

Der Schmerz der Gewöhnung

Roman von Joseph Zoderer. Hanser Verlag, München 2002, 290 Seiten, geb., e 20,50

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