Verletzte Welten

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18 JAHRE LANG HAT PÉTER NÁDAS AN DIE-SEM ROMAN GESCHRIE-BEN. NUN IST ER AUCH AUF DEUTSCH ZU LESEN.

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18 JAHRE LANG HAT PÉTER NÁDAS AN DIE-SEM ROMAN GESCHRIE-BEN. NUN IST ER AUCH AUF DEUTSCH ZU LESEN.

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Parallele Geschichten sind in der Literatur keine Seltenheit: dass einmal aus der einen, einmal aus der anderen Perspektive erzählt wird, dass mehrere Lebensläufe und Handlungen parallel geführt werden. Die "Parallelgeschichten" von Péter Nádas aber haben Seltenheitswert, nicht nur wegen des enormen, selbst für passionierte Leserinnen und Leser womöglich sogar abschreckenden Umfangs. 1700 Seiten umfassen die drei Bände, die -sieben Jahre nach der Erstausgabe im Ungarischen - von Christina Viragh ins Deutsche übersetzt nun in einem Band erschienen sind. Ein Mammutwerk, und schon werden Stimmen laut, die daran erinnern, dass Nádas seit Langem als Nobelpreisträger gehandelt wird.

Der Roman setzt sich aus Geschichten zusammen, die einmal in Ungarn spielen, dann in Deutschland, einmal in den 90er-Jahren, dann in den 60er-Jahren, dann in einem Lager. Sie erzählen von vielen Figuren parallel und selbst der Geschlechtsverkehr wird zu einer Parallelaktion, wenn etwa derselbe Liebesakt einmal aus der Sicht der Frau, dann aus der des Mannes beschrieben wird. Apropos Geschlechtsverkehr: Diesbezüglich gibt es viel zu lesen bei Péter Nádas, der sich nicht scheut, genau hinzusehen, die Dinge beim Namen zu nennen und das viele Seiten lang. All das Verschwiegene, dessen Rolle aber nicht zu unterschätzen ist: Hier wird es beschrieben. Das Körperliche ist überhaupt auffällig präsent in diesem Buch und Nádas' "Parallelgeschichten" erzählen auch, was im Kopf eines Menschen vorgeht und was gleichzeitig mit seinem Körper passiert. Und in beiden geht viel vor: In den Köpfen rauscht die Erinnerung, und die ist oft genug grauenhaft, etwa bei den Überlebenden des Naziterrors, und in den Körpern rauscht nicht nur das Blut. Beim Beschreiben der körperlichen Akte ist Nádas äußerst detailgetreu und das Lesen dieser -sonst verschwiegenen - seitenlangen Delikatessen aller möglichen Körperteile und -flüssigkeiten fordert doch ziemlich heraus.

Ermittler und Enthüllung

Nádas beginnt raffiniert und Spannung aufbauend. Auf den ersten Seiten ist alles da, was zu einem Kriminalfall dazugehört: eine Leiche, ein Student, der sie findet, ein Ermittler und die Frage: Wer ist die Leiche?

Doch wer mit diesem Roman viel Auflösung erwartet, wird enttäuscht werden. Enthüllt wird hier vielmehr das Chaos der Welt. Einfach ist das nicht. Es ist eher so, dass man, je mehr man liest, desto weniger durchschaut. Das Chaos versucht Nádas mit seiner Erzähltechnik über weite Strecken sichtbar zu machen. Ein literarisches Verfahren dafür ist, dass man mit jenen künstlichen, immer nachträglich gebauten Konstruktionen à la Anfang, Mitte und Ende und eindeutiger Entwicklung bricht. "Wir bewegen uns nicht im Raum der geordneten Strecken, wie es der Roman des 19. und 20. Jahrhunderts vorgibt", sagte der ungarische Autor denn auch in einem Interview. Narrationen sind Versuche, Ordnung in das Leben zu bringen. Dieser Roman aber erzählt auch die Auflösung der Identität als Narration des Einsseins. Das wird auch erzähltechnisch durchgespielt, zum Beispiel durch den Wechsel von der dritten Person in die erste. Parallelgeschichten sind also auch Geschichten einer Person, die zwei Ichs in sich fühlt. Die Erfahrung "ich trage Leute in mir, die nicht ich sind, und blicke mit ihnen in Zeiten und auf Orte zurück, die es für mich gar nie geben konnte, oder ich blicke in Zeiten voraus, die ohne mich für niemanden kommen würden" lässt sich zudem auch als Konstruktionsprinzip dieses Romans lesen.

Viele Ichs bevölkern diesen Roman, und jedes ist ein Teil eines Ganzen, das man zwar nicht durchschauen kann, das aber dennoch auf jeden einwirkt. Parallel sind jedoch auch im politischen Bereich die öffentlichen und geheimen Geschichten, und deswegen geht es auch um Spionage in Nádas' Roman.

Viele Geschichten

Jedes der 39 Kapitel ist eine Geschichte, die einzeln für sich stehen könnte, in Form einer Novelle oder Kurzgeschichte. Sie alle stehen aber eben doch in manchmal nur schwer erkennbarem Zusammenhang. Hilfreich für die Lektüre ist der Begleitband "Péter Nádas lesen" mit Bildern und Texten zu den "Parallelgeschichten".

Nádas wurde am 14. Oktober 1942 geboren. An diesem Tag wurden im polnischen Mizocz mehr als 1200 Juden ermordet. Die Geschichte seiner Familie und damit seine eigene Geschichte ist von den Gewalttaten des Naziregimes geprägt. Auch sein Roman, dieses Jahrhundertwerk, ist das, denn der zeitliche Bogen, den Nádas spannt, reicht von den Gräueln des 2. Weltkrieges bis zum Fall der Mauer in Berlin, er zeigt einen Ausschnitt Mitteleuropas zur Zeit des Kalten Krieges, vor allem Budapest im Jahr 1961 und die politischen und menschlichen Wirren dieser Zeit: und er zeigt sie realistisch, minutiös, geradezu mikroskopisch. Ob bei der Fahrt im Taxi, beim Geschlechtsverkehr im Bett: Sichtbar werden die Verletzungen, die das vergangene Jahrhundert in Menschen angerichtet hat. Sichtbar wird das Chaos einer beschädigten Welt.

Parallelgeschichten Roman von Péter Nádas Aus dem Ungar. von Christina Viragh Rowohlt 2012 1723 S., geb., e 41,10

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