6787708-1970_20_14.jpg
Digital In Arbeit

Kreuzzug auf Abwegen

Werbung
Werbung
Werbung

VERRAT AM BOSPORUS. Die Eroberung Konstantinopels 1204. Von Ernle Bradford. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Heumann. Tübingen, Rainer-Wunderlich-V erlag Hermann Leins. 1970. 324 Seiten, 8 Bildtafeln.

Wir haben gelernt, in der Einnahme von Konstantinopel durch die Kreuzfahrer, in der Gründung des Lateinischen Kaisertums, einen der ärgsten Unglücksfälle in der Geschichte der Christenheit zu sehen. Denn erstens hat in den letzten Jahrzehnten das Verständnis für Byzanz unerhörte Fortschritte gemacht; zweitens haben wir erlebt, wie das tut, wenn man ein Bollwerk der Christenheit unter dem Vorwand demoliert, man müsse doch für die Verteidigung des Abendlandes sorgen, indem man nach Ostland reitet. Hier haben wir also eine willkommene Lektüre — eine Geschichte des umfunktionierten IV. Kreuzzuges. Das wäre ja schön und gut; niemand hätte Lust, an einem guten Buch Kleinigkeiten zu bemängeln. Doch auch Verleger müssen erzogen werden; man muß ihnen sagen, was erträglich ist und was nicht.

Es ist unerträglich, den Namen der Originalausgabe nicht finden zu können. Es ist unerträglich, auf dem Umschlag — da es ihn schon gibt — den Waschzettel eines anderen Büchs und kein Wort über den Autor des vorliegenden zu finden. Es ist unerträglich, wenn man für die Übersetzung eine Dame heranzieht, die wahrscheinlich einen Krimi oder einen Versandhauskatalog tadellos übersetzen würde, nicht aber dieses Geschichtsbuch. Nämlich ... Der Kaiser von Nikäa heißt konsequent Theodore — da hieß sein Schwiegersohn wohl John?! Die Große Kirche heißt Santa Sophia — auch diese Promenademischung von einer Sprachform wird konsequent verwendet. Zwischen Kaisertum, Königtum und Fürstentum wird, ausgerechnet in einem Buch über Byzanz, nicht unterschieden: „Die Königswürde gibt ein hübsches Leinentuch ab“ — bemerkt Kaiserin Theodora, wobei auch das Leinen-tuch eine schöne Übersetzung ist... Manches mag ja dem Original anzurechnen sein. Ein Augenzeuge — in einem Zitat mit Gänsefüßchen, keine Rede von Anmerkung — berechnet Distanzen in Kilometern: erst auf Seite 278 bemerkt der Autor, daß die Venezianer drei Achtel des eroberten Reichs behielten, Seite 29 sind es drei Viertel. Ach ja, „quartae partis et dimidiae“ — schwere Sprach! Und dem Text reiht sich würdig der Index an. Das köstlichste ist der im Text zitierte heilige Basilius, im Index zu finden unter „S“: St. Basilius! Können wir wenigstens die Bilder schlechthin loben? Auch nicht — die vorhandenen sind gewiß hübsch, aber in ein Geschichtsbuch gehören Bildnisse der handelnden Personen, und es gäbe Münzen und Siegel genug. So bleibt denn der größte Vorzug des Buchs sein Thema; es ist wirklich unmöglich, die Bedeutung des ersten Falls der Kaiserstadt zu überschätzen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung