Die Last der Zeitzeugenschaft

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"Im toten Winkel", das Interview mit der Hitlersekretärin Traudl Junge, ist eine (filmische) Großtat.

Gegen rechte Ignoranz zu kämpfen, bleibt sinnloses Unterfangen. Dass Carl Gustaf Ströhm in Andreas Mölzers Wochenschrift Zur Zeit die lichtvolle Frage zum Besten gibt: "Aber was vermag die Sekretärinnen-Perspektive an neuen Einsichten über Hitler zu bieten?" überrascht kaum. Und dass er dann weiter schwadroniert: "Nichts gegen tüchtige Sekretärinnen - aber nicht nur im Falle des Mannes aus Braunau ist die Vorzimmerperspektive fragwürdig, weil sie das Wesentliche gar nicht wirklich erfassen kann", zeigt, dass die Beschränktheit bei Ströhm - und nicht bei Traudl Junge - liegt.

"Im toten Winkel", das lange Interview mit Hitlers Sekretärin, das André Heller und Othmar Schmiderer für die Kinoleinwand gestaltet haben, ist in mehrerlei Hinsicht ein bedeutender Film: Traudl Junge, die von 1942 bis zum Ende im Führerbunker tätig war, macht durch ihr Erzählen etwas von der banalen Kleinbürgeratmosphäre anschaulich, hinter der sich das System an der Spitze bis zuletzt verschanzt hat. Die "Sekretärinnenperspektive" rückt die übermächtige historische Dimension der NS-Herrschaft ins alltäglich Kleinliche: Nicht der megalomane vermeintliche Weltenbeweger, der Massenmörder par excellence präsentiert sich da, sondern ein älterer Herr, der mit den Damen Sekretärinnen täglich beim Teetrinken konversiert, letztlich aber durch Selbstmord alle im Stich lässt.

Das Banale ist eine der Kehrseiten des Bösen, und Traudl Junge gelingt es, dieses Milieu in dichtester Erinnerung wieder gegenwärtig werden zu lassen. Gleichzeitig liegt ein bleierner Schleier über dieser Erinnerung: Junge fragt sich quälend, warum sie nichts mitbekommen hat von der Schrecklichkeit dieser Leute, und warum ihr die Augen verschlossen blieben, obwohl sie hätte sehen können: Der Film endet mit dieser Frage und mit Gedanken an die von den Nazis hingerichtete Sophie Scholl, die - genau so alt wie Traudl Junge - sich nicht hatte blenden lassen.

Dichte und Beklemmung von "Im toten Winkel" liegen wesentlich auch an der Gestaltung: André Heller und Othmar Schmiderer verzichten auf historische Aufnahmen und Erklärungen, auf zusätzliche Geschichten und Bilder - nur Traudl Junge ist zu sehen: in Rot, in Weiß, in Schwarz. Manchmal wird ihr Gesicht beim Betrachten des Videobandes ihres Interviews gezeigt, manchmal bessert sie dabei einiges zuvor Gesagte aus.

Aus gut zehn Stunden Material haben Heller und Schmiderer diese Dokumentation zusammengestellt: Traudl Junge erzählt über ihre "Anwerbung", über ihr Leben im ostpreußischen Führerquartier Wolfsschanze, übers Attentat des 20. Juli 1944 , schließlich über die letzten Tage im Führerbunker in Berlin.

Es ist eine Großtat, dass sich Heller und Schmiderer extreme Beschränkung auferlegen. Ganz anders als beim Star-Dokumentarfilmer Guido Knopp, bei dessen TV-Serien dutzende Zeitzeugen hunderte Häppchen-Sätze auf die Zuseher loslassen (auch Traudl Junge hatte zu Knopps "Hitler und die Frauen" ein paar Wortspenden beigesteuert), ist "Im toten Winkel" einer einzigen Person gewidmet: Junge, die eigentlich auf den hinteren Rängen der Geschichte Platz genommen hatte, bekommt Raum und die nötige Zeit, um die Ungereimtheit dieser zweieinhalb Jahre auszubreiten - und ins Reine zu bringen.

Bekanntlich ist Traudl Junge am 11. Februar, einen Tag nachdem "Im toten Winkel" bei der Berlinale den Publikumspreis erhalten hatte, ihrem Krebsleiden erlegen. Ob der Tod von "Hitlers Sekretärin" durch die späte Aufregung um den Film (mit)verursacht wurde, oder ob sie nun in Ruhe gehen konnte, weil sie, wie sie im letzten Telefonat mit André Heller erklärte, jetzt endlich in der Lage sei, sich selbst zu verzeihen, ist kaum zu ergründen. Aber Junge hat mit der Strapaz des Interviews der Nachwelt einen unschätzbaren Dienst erwiesen.

Nicht eine Sekunde kann man wegschauen bei diesem Film - und man ist sich selbst keineswegs sicher, auf welcher Seite man sich wiedergefunden hätte, hätte man damals im Dritten Reich gelebt.

Ein Pflichtfilm für Zeitgenossen.

IM TOTEN WINKEL - HITLERS SEKRETÄRIN. Österreich 2002.. Ein Film von André Heller und Othmar Schmiderer. Mit Traudl Junge. 110 Min.

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