Ins Gedächtnis geholt

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Wie Claude Lanzmann "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" gegenwärtig macht.

Hatte Monsieur Lerner vorher schon jemand getötet?" fragt Claude Lanzmann im Off die Dolmetscherin. "Nein, nein, ich hatte noch nie jemanden getötet", so auf Hebräisch die Antwort von Yehuda Lerner - und er lächelt dabei. Mit dieser Interviewsequenz fängt "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" an - ein Filmkunstwerk Claude Lanzmanns an der Grenze des Dokumentarfilms.

Oben beschriebene Einstellung ist beinahe eine Viertelstunde lang das einzige Bild von Yehuda Lerner. Denn zu Beginn wird das Erzählte mit heutigen Aufnahmen von Warschau (wo einst das Ghetto war), Minsk oder vom heute verlotterten Bahnhof des ostpolnischen Dorfes Sobibór, in dessen Vernichtungslager ab 1942 250.000 Juden ermordet worden waren, bebildert.

Das Lächeln des Yehuda Lerner, der vom Warschauer Ghetto nach Weißrussland vertrieben wurde und schließlich 1943 in Sobibór landete, berichtet vom Aufstand jüdischer Lagerinsassen, der einige der deutschen Besatzer das Leben kostete und im Oktober 1943 zur Schließung des Lagers führte. Das Lächeln umspielt Lerners Lippen beim Erzählen, wie er persönlich einem der verhassten Deutschen das Haupt spaltet. Diese archetypische Tötung ermöglicht nicht nur die persönliche Befreiung Lerners (auf die der Film dann mit Absicht nicht weiter eingeht), sondern sie stellt gleichzeitig das überzeitliche Symbol eines Aufbäumens des entmenschten Volkes dar - eine Metapher, die stellvertretend für die Befreiung von der Entmenschung der Schoa steht.

Ausgangs- und Zentralpunkt von "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" (der Filmtitel benennt den Zeitpunkt, an dem der Aufstand ausbricht), ist das Interview, das Claude Lanzmann schon 1979 mit Yehuda Lerner in Israel geführt hatte. Das Interview gehörte zu den Arbeiten für Lanzmanns Dokumentarepos "Shoah", das er 1985 fertigstellte; es ließ den Regisseur nicht mehr los, nicht zuletzt weil es von einemder seltenen Beispiele erfolgreichen jüdischen Aufbegehrens im Dritten Reich handelt.

Trotz des Interviews als Zentrum liegt das filmische Konzept, das Lanzmann auch in diesem Film verwirklicht, jenseits des Pseudodokumentarischen mit schon bis zum Überdruss verwendetem Archivmaterial. Es verweigert sich aber auch der "Ästhetik des Grauens" à la "Schindlers Liste", die Lanzmann heftig ablehnt. Lanzmann erreicht Authentizität, indem er neben den Interviewbildern mit dem oft stark angeschnittenen Gesicht Lerners den Orten der einstigen Handlung heute nachspürt und so die Erzählungen Lerners mit den - mitunter immer noch trostlosen Bildern der verlassenen Landschaft des heutigen Ostpolen kontrastiert.

Solche Bildersprache erzeugt keine Pseudo-Betroffenheit, sie gibt auch nicht vor, das geschilderte Unheil dokumentarisch wiedergeben zu können. Lanzmann bedient sich der Bildebenen von Interview und Landschaftsaufnahmen, um sich der historischen wie anthropologischen Bedeutung der Ereignisse von Sobibór zu nähern. Darstellen kann man das alles nicht, macht Lanzmann auch mit diesem Film klar. Aber es gelingt, davon zu erzählen und eine verschüttete Aufbäumungsgeschichte ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen.

Nach "Im toten Winkel", dem von André Heller und Othmar Schmiderer gestalteten Interview mit der Hitler-Sekretärin Traudl Junge, ist Lanzmanns Vergegenwärtigung von Sobibór binnen kurzem der zweite gelungene Versuch, das Unaussprechliche des Dritten Reiches bewegend und gültig zur Sprache zu bringen.

14 OCTOBRE 1943, 16 HEURES. Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr. F 2001. Regie und Buch: Claude Lanzmann, Kamera: Caroline Champetier (2001), Dominique Chapuis (1979). Stadtkino Verleih. OmU, 95 Min.

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