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Anderl findet keine Ruhe

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Frischer Holzgeruch erfüllt die kleine Kirche. Die Bänke sind ebenso neu wie der Volksaltar. Eine barocke ölberggruppe ersetzt die lebensgroßen Figuren der Ritualmordlegende auf dem „Judenstein“, der Ort und Kirche den Namen gegeben hat. Wie aus dem Schachterl präsentiert sich das Gotteshaus nach den Monaten des Streits, der Veränderungen, der Restaurierung. Fünf Millionen Schilling haben Bischof Reinhold Stecher und das Stift Wilten, zu dem die Kirche gehört, aufgebracht, um eine Tradition zu überwinden, die es heute einfach nicht mehr geben darf.

Ist der alte Brauch überwunden, der durch Jahrhunderte, auf historisch unhaltbaren Überlieferungen auf bauend, nicht mehr war als eine marginale, lokale Übung? Erst in den dreißiger Jahren erfuhr der Anderl-Kult, wie Floridus Röhrig nach weist, über die Innsbrucker Umgebung hinausreichende Bedeutung, als man bemüht war, möglichst viele „ortseigene“ Heilige zu propagieren. Und dem Nationalsozialismus kam die Judensteiner Ritualmord-Legende gerade recht. Ist sie endlich überwunden?

Die Gebeine des Buben - der Legende nach im Alter von vier Jahren von durchreisenden Juden ermor det - sind aus dem Glaskasten am Hochaltar in einen Metallsarg an der rechten Seitenwand übersiedelt worden. Eine Marmortafel gibt der Tradition die rechte Deutung.

Draußen aber, im Freien, fünf Meter von der Kirche entfernt, lädt ein Anschlag zur Wallfahrt am „Anderltag “ein, zur Feldmesse, um des kindlichen „Märtyrers“ zu gedenken. Und dort, wo im Innern die Gebeine ruhen, hegen heraußen Blumen. Eine alte Frau, neben ihr ein etwa fünfjähriger Bub, ist bemüht, die verwelkten Blüten zu entfernen, die noch schönen neu zu ordnen.

„Weit is’ kemmenl“ meint sie verbissen zum neugierigen Beobachter. „Do san jetzt die Verehrer vom Anderll Rausg’schmissen hams uns aus der Kirch’nl “

Auf die Bemerkung, zum Beten sei die Kirche immer noch der beste Ort, faucht sie: „Geht’s nur eini in den Judentempel! Mir blaib’n drauß’n!“

Und als der Besucher sich anschickt, die Szene im Bild festzuhalten: „Photographierts nur! “ und dreht ihm demonstrativ die Hinterseite zu.

Es wird noch lange dauern, bis das Anderl seine Ruhe findet.

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