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Die verlorenen Ferien

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Der erwachsene Mensch weiß nicht mehr, was wirkliche Ferien sind; er mag tun, was er will, nie wird er sie so genießen, wie er als Kind getan hat. Vergebens verkündet er jedes Frühjahr schallend, wie sehr er sich auf den Sommer freue, wohin er in die Ferien fahren und wie er sie genießen werde. Ist er mitten drin, dann stellt er nörgelnd fest, daß es entweder zu heiß sei oder zu viel regne; daß ihm die unverschämten Fliegen keine Ruhe ließen, das Essen nicht so sei, wie es sein sollte, die Ameisen sich überall breit machten, das Bier sehr zu wünschen übrig lteße, das Bad viel zu weit, die Gesellschaft reichlich unsympathisch sei. Dem Kinde sind weder Fliegen noch Ameisen lästig; weder Hitze, noch Schlechtwetter, noch das Essen können ihm etwas anhaben. Ihm genügt die Tatsache, daß Ferien sind, seine Ferien sind sozusagen, ein Ding an sich, es sind reine Ferien.

Die reinen Kinderferien sind ethymolo-gisch eigentlich gar keine Ruhetage; es gibt darin keine Ruhe, keine Vakanz, sandern im Gegenteil eine ungewöhnliche Regsamkeit. Die Hauptsache ist, daß man nicht in die Schule muß; was nicht besagen will, daß die Schule eine Qual und eine schwere Plage bedeuten muß, sondern daß die Schule in den Augen des Kindes eine unfaßbare Zeitvergeudung darstellt, da man die Zeit doch voller und reicher nützen kann. Der tiefste Genuß an den Ferien ist das Hochgefühl des Nicht-Müssens. Gewiß, auch während der reinen Ferien bleiben eine Menge Gebote bestehen; so darf man zum Beispiel kein unreifes Obst essen und die Katze nicht am Schwanz ziehen. Hingegen werden die Vorschriften darüber, was man tun muß, auffallend eingeschränkt; man kann fast alles tun außer dem, was man nicht darf. Mit einemmal weitet sich ringsum ein freier Raum; doch es ist kein leerer Raum, im Gegenteil: er ist übervoll von Dingen und Geschehnissen, quillt über von Inhaltsfülle. Der Raum der reinen Ferien hat seine Grenzenlosigkeit, wenn er auch oft nicht viel weiter als bis zur Ecke unserer Gasse oder bis zum Zaun unseres Gartens reichen mag.

Die andere große Freude an den richtigen Ferien ist der Genuß der Zeit. Die Zeit der Ferien ist nicht durch Gebote gegliedert und zerstückelt; sie besteht nicht aus Stunden, sondern aus reiner Dauer und ungestörtem Ablauf. Solange wir leben, werden wir nie wieder die Zeit an sich genießen, die Zeit in all ihrer Größe und Herrlichkeit, wie es ein Tag der reinen Ferien ist.

Vergebens wird der erwachsene Mensch die verlorenen reinen Ferien an den Ufern des Meeres oder auf den Gipfeln der Berge suchen. Warum? Weil er nicht mehr den grenzenlosen Genuß am Nicht-Müssen und an der Freiheit hat. Sind wir nicht Zeugen, wie die Erwachsenen da und dort alles mögliche tun, um sich eine Welt aus Zwang und Verbot zu schaffen? Und was die Freude an der Größe und der Herrlichkeit der Zeit betrifft, so sind sie deren erst recht unfähig. Es gibt für sie keine solchen reinen Ferien mehr, ohne daß sie scharf und peinlich fühlten: Gott, wie die Zeit vergeht I

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