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Urlaub von der Stange

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Wir leben in einer großen Zeit!

Wir leben gesünder, länger, besser, sorgloser; wir haben mehr Fußballplätze und Kinos als früher, viel mehr Autos und größere Häuser. Und wir fahren viel weiter in die Ferien. Hier zeigt sich der Vergleich zu einstmals besonders kraß. Nichts wird dem Staatsbürger heute leichter gemacht als das Reisen. Man braucht sich nicht einmal die Mühe zu machen, davon zu träumen, denn alles irgend Erträumbare hängt bereits bunt plakatiert in den Straßen oder wird einem zum gefälligen Nachträumen als paradiesfarbiger Prospekt in den Postkasten geworfen. Dann kauft man seine Urlaubsreise gewissermaßen von der Stange, voll imprägniert, denn gegen Regen ist sie ebenso versichert wie gegen Diebstahl, Unfall und sonstige Unerfreulich- keiten. Es ist, wie man so schön zu sagen pflegt, „alles inklusive” — und man reist nicht mehr, man wird gereist.

Das war früher ganz anders. Unsere bedauernswerten Großeltern mußten ihr Urlaubsziel über zwei Haupt- und vier Nebenbahnen erreichen und zunächst einmal eine Woche ruhen, um sich von den Strapazen einer solchen Töitrfzb erholen? ‘Entspannende ‘ Unterhaltung fehlte zur Gänze; es fehlte der „Um-den-Berg- und-retour-Sonderbus”, der uns heute in jedem mittleren Alpendorf zur Verfügung steht, es fehlte der Sessellift (bei zehn Fahrten eine gratis!), es fehlten im Schankraum die buntschillernden Musikautomaten mit ihren erholsamen Schlagern und im Zimmer die Steckdosen für den Rasierapparat, das Bügeleisen und der Fruchtmixer. Unvorstellbar, doch ungeschminkte Wahrheit! Hätten die Aermsten gewußt, daß ihr individuelles Reisepfbgramm dereinst von einer fachmännisch konfektionierten Modellreise unter Berücksichtigung einer unüberbietbaren Zeitausnützung abgelöst würde, wo niemand mehr Gefahr läuft, seinen Urlaub in zeitverschwendender Erholung zu vergeuden — die Aermsten hätten wohl gar keinen Spaß mehr an ihren Ferien gehabt.

Nun, der Mensch von heute bedarf auch einer anderen Erholung als der Mensch von einst. Heute, da jeder anständige Mensch einen Terminkalender bei sich trägt, muß auch der Urlaub ein anderes Gesicht bekommen. Es hätte für die Gesundheit und seelische Verfassung beruflich Abgehetzter die schwersten Folgen, dem unverbesserlichen Reiscindividualismu ihrer Großeltern zu huldigen. Außerdem könnte man es einem Paar, das vor Urlaubsantritt vier runde Gehälter kassiert, schwerlich zumuten, auf luftiger Alm alle vier von sich zu strecken und so zu tun, als wüßten sie nichts von den vierzehnseitigen Reiseprospekten mit 98 Gesellschaftsfahrten nach allen Punkten der Erde!

Berücksichtigen wir ferner, daß der Urlauber unseres Zeitalters auf ein kulturelles Beiprogramm auf seiner Tour nicht verzichten will und kann! Er braucht diese Fünfzehn-Minuten- Führungen durch mittelalterliche Klöster und Burgen mit ihrer wechselvollen Geschichte! Er braucht diese Zwischenstationen auf den Punkten unserer Erdachse, wo einst Schlachten tobten, Könige gestürzt und gekrönt wurden! Wozu hätte er sich sonst diese sündteure Kamera gekauft, die nun an einem Ganzlederriemen dekorativ von seinem Halse baumelt! .0511

Dann ist es auch so, daß der moderne Urlauber selbst an den hehren Stätten der Geschichte nicht ganz aus dem Fahrwasser anbrechender Erfolge geraten will. Wenn er während der Ferien schon seine diversen Kuren unterbrechen und seine meist unfairen Konkurrenten und etwas lahmen Mitarbeiter vergessen muß, so will er auf der Reise zumindest seinen geliebten Tagungs- und Terminkalender wiederfinden. Dieser vermittelt ihm erst so richtig das Gefühl, „dabei zu sein”, das alles wirklich zu erleben, was zu erleben vorgesehen ist. Schließlich könnte er ja auch vergessen, wo dieser schiefe Turm oder dieses hohe Stahlgerüst gestanden ist. Ein Blick in das Reiseprogramm — und schon weiß er, wohin alles gehört.

Nächstes Jahr geht der Fernurlauber natürlich wieder auf große Fahrt. Wohin es geht, kann er freilich noch nicht sagen; denn er bekommt die Reiseprospekte erst zu Beginn des nächsten Jahres.

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