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Bloßfüßige Iphigenie

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Gerade in einer Zeit, in der Greueltaten von Greueltaten gefolgt werden, kommt Goethes „Iphigenie auf Tauris”, derzeit im Akademietheater aufgeführt, besondere Bedeutung zu. Iphigenie zeigt sich des Betrugs unfähig, König Thoas läßt Gefangene frei, Menschlichkeit siegt Es gibt mehrere Fassungen, gespielt wird stets die letzte, in Jamben, aus dem Jahr 1789. Der ostdeutsche Regisseur Adolf Dresen wählte dagegen die Urfassung in Prosa aus dem Jahr 1779. Bewog ihn Angst vor der Bändigkeit der Kräfte, die sich im Harmonischen des Verses ausdrückt?’Angst vor Klassizismen? Thoas spricht hier von sich als einem Wilden, somit als einen Barbaren. Soll dem etwa eher die Prosa entsprechen?

Die Griechen bezeichneten selbst die Ägypter als Barbaren. Sie waren es selbst, wenn Grausamkeit die entscheidende Eigenschaft der Barbarei ist. Aber sind es die Skythen, zu denen Iphigenie von Diana entrückt wurde, von den kulturellen Leistungen her beurteilt? Welch hohe Kultur die benachbarten Thraker hatten, sahen wir vor zwei Jahren in der Ausstellung „Thrakische Goldschätze”. Der Bühnen- und Kostümbildner Matthias Kralj sieht als Tempel der Diana ein Zelt vor. Allenfalls, die Skythen waren ein Steppenvolk. Aber es gibt keine Öffnung, man muß die Zeltwand heben oder mit dem Schwert schlitzen, um hineinzugelangen. Offenbar ein optischer Gag. Das Standbild der Göttin ist ein mit Fetzen umwickeltes Holzgerūąt, auf dem ein mächtiger ausdrucksloser Puppenkopf aufgespießt ist und isoliert davon zwei Arme baumeln. Sollen die Skythen als „Wilde” desavouiert werden? Die „Wilden”, wo immer, hatten Standbilder ihrer Götter mit großartiger Form- kraft.

Elisabeth Orth ist als Iphigenie, als Griechin, als Priesterin, ein zerrauftes, verschmutztes Bettelweib. Nach Weisung von Regisseur und Kostümbildner muß sie offenbar aussehen wie irgendein Skythenweib, darf nichts priesterliches haben, alles Höhere ist verpönt. Frau Orth muß herumrennen, herumhüpfen, sie ist bloßfüßig, schäkert im Eingangsmonolog- „Heraus in eure Schatten, ewig rege Wipfel”

- mit dem Publikum. Dennoch spürt man, daß sie eine Iphigenie sein-könn- te, allerdings müßte sie so sprechen, daß man etwas mehr als die Hälfte des Textes versteht.

Auch Wolfgang Hübsch hat als Orest der Gestalt entsprechende Momente, mit seinem gestutzten Knebelbart hätte man sich abzufinden. Franz Morak wirkt als Pylades fast hysterisch hitzig. Beide tragen lange Hosen. Einprägsame Gestalten zeichnen Heinrich Schweiger als Thoas und Fritz Grieb als Arkas.

Selbstverständlich erwarten wir von Regisseuren immer wieder neue Interpretationen der bedeutenden Stük- ke, da wir uns selbst mit unserer Zeit ständig wandeln. Die müssen aber aus dem Geist der jeweiligen Dichtung erstehen.

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