6553432-1948_08_08.jpg
Digital In Arbeit

Die Religion des deutschen Humanismus

Werbung
Werbung
Werbung

Raoul Aslans Neuinszenierung der „I pH i- genie auf Tauris“ im Akademie t h e a t e r bringt dieses Bekenntniswerk Goethes als ein Oratorium, ein Weihespiel. Beetliovensdie weltlich-geistliche Sakralmusik umkleidet gedampft die heilige Handlung mit schweren, dunklen Tönen. Die streng stilisierte (nur leise an Caspar David Friedrichs romantisches Fernweh gemahnende) Landschaft, die sdiöne Enthaltsamkeit und innerlich-klassische Stilisierung der Kostüme (Bild und Kleidung: ein Kunstwerk Erni Knie- perts, deren Kostüme im „Sommernachtstraum“ auf fielen), das reine Weiß der Fliesen, des tektonischen Geheges des Tempelbezirks, Bild, Ton und Farbe wollen so eingangs schon bedeuten: hier geschieht heilige, vorbildliche Handlung. Ein Schleiervorhang wehrt das Gemeine des Tages, wie es unvermeidbar mit ungestümen, wifren Pulsen von der Straße hereindrängt, aus dem Proszenium ab, schirmt den heiligen Hain der Göttin und vollendet das Werk der Entrückung.

Iphigenie, oder: die Religion des zweiten deutschen Humanismus, Dieser Glaube und sein Kult verdankt seine Geburt einer einzigartigen Sternstunde deutscher Geschichte: ein Volk im Übergang vom Dienst in der Liturgie seines alten Gottes zur Liturgie der Dämonen. Goethe, der Mäinfranke aus dem karolingischen Raum des „heiligen Reiches“, des diristlichen Humanismus des ersten Jahrtausends (800 bis 1800) übersetzt den Heili- gen-Geist-Hymnüs seines Landsmannes, des karolingischen Theologen Rhabanus Maurus in sein geliebtes Deutsch, er beginnt sein Didjterwerk mit einer Höllenfahrt Christi und endet es mit der Himmelfahrt Faustens, wie R. A. Schröder vor 15 Jahren schön herausgestellt hat. In der Mitte aber steht die hohe Feier seiner Religion: die Zelebrierung des Kultes des „reinen Menschen“, des gottesmächtigen Dieners des Wahren, Guten und

Schönen. Gewaltigster Versuch, das christliche Erbe hereinzn- h ölen in die Selbstmächti gk eit eines neuen Erl eben s: Iphigenie ist noch ein Spiel von Schuld und Begnadung, von Fluch, Erbsünde und Erlösung. Schauerlich gegenwartsnah ihre Erzählung von den Schandtaten ihres Volkes, vom Fall ihres Gesdiledits. Ihr Urvater Tantalps tafelte auf "goldenen Stühlen mit den Göttern — treulose Verräter, meineidige Mörder, blutschänderische Wahnsinnige gehen aus seinen Lenden hervor. Im hohen Gleichnis weniger Namen — Tantalos, Atreus, Thyestes, Agamemnon — wölbt sich nicht nur der schrecklich-großartige Bogen vom Götterfreund zum Menschenmörder, sondern auch die ahndungsvolle Erinnerung der Antike an das Goldene Zeitalter, an das erste Paradies der Menschheit, an das schuldhafte Gefälle, das in den Katarakten weniger Generätionen die Enkel, einst Erben des Himmels, zu unseligen Besitzern der Hölle abfallen läßt, zu Besessenen, gejagt von den Göttinnen der Rache, den Erinnyen.

Iphigenie weiß um diese Schuld, „der ganzen Menschheit Jammer“ bückt sie an, im zerstörten Antlitz Orestens, des Bruders ... Sie wird ihn entsühnen, reinigen, befreien heilen. Gesund an Leib und Seele wird er vor ihr stehen: wie ein Götterbild. Noch aber ist da der andere — der ewig andere — der Barbar. Thoas, König der Taurier, Herrscher aller Völker, welche immer, zu allen Zeiten, hungrig-liebend, haßvoll-fremd begehrend, leidvoll sehnend am Rande der großen Becken alter Kulturen stehen und aus ihnen die vollen Becher der Erfüllung rauben wollen. Wenn dann Goethe in der Tat der Selbstüberwindung seiner schönen Griechin, in ihrer Zuneigung zu dem Barbaren, dem Ganz-anderen, dem ewigen Erbfeind ihres Reiches edlen Maßes, reirter Sitte die frohe Botschaft von der Einheit des Menschenge- schledns, von der Überwindung der Gegen-

sätze zwischen Ost- und Westvolk, Griechen und Barbaren, verkündet, dann sucht er hier mit seinen Mitteln, in seinem Weltinnen- raum, das Evangelium des Paulus nachzugestalten, frohe Botschaft den Juden und Heiden, den Griechen und Barbaren, den Zungen aller Welt...

Ohne Zweifel: die tiefe Erschütterung Goethes im schuldhaften Gefälle seiner Lehr-, Irr- und Wanderjahre, gelöst im Erlebnis Italiens und seiner Antike, durchpulst mit vitalen Stößen roten Blutes die marmorne Statuarik des sinnbildhaften Geschehens: erst durch Metanoia, innerste Umsinnung und Umkehr wird Iphigenie wirklich frei. Thoas, .K m Barbaren, muß si ihre Schuld einbekennen — die Lüge, den Wankelmut, die Schwäche des Herzens — und dieses ihr Bekenntnis wird Zum wahrhaftigen Angelpunkt, der die ganze alte Welt des ewigdüsteren Do-ut-des aus den Angeln hebt. Nicht mehr soll es, in Zukunft, fataler Zwangherrlichkeit verpflichtet, heißen: id) g :be, du gibst, Tat gegen Tat, Aug um Aug, Zahn um_ Zahn. Nein. Der Kreislauf der Schuldgesetzlichkeit wird durchbrochen: der erste Raum für die Freiheit des Menschen tut sich auf — in der Gnaden-tat des Thoas ! Er, der Barbar, stiftet mit Hilfe des Griechenmädchens die neue Welt befreiterMenschlichkeit. In Hinkunft soll ein Band der Liebe, des Gleichmaßes, des Vertrauens die Gegensätze der Weltgeschichte verbinden: die Ostwelt der Taurier und die Westwelt der Griechen. Beethovens Neunte Symphonie ...

Mit dem ganzen Einsatz persönlicHerlebter Überzeugung verkündet Goethe diese seine Frohbotschaft. Da der Zeiger der Zeit aber nicht auf 1779 (das Jahr der ersten Fassung), 1787 (die dritte Fassung Iphigeniens), sondern auf 1948 steht, geziemt es, die tragische Grenze, das heißt, den geschichtlichen Standort dieser Religion Goethe s anzuzeigen. Die „reine Mensch heit“ Goethes mit all ihrer edlen Anmut und „stillen Größe“, diese weltumschlingende All- Einheit, die der große Schüler P 1 o t i n s so emphatisch zu preisen wußte, umfaßte in Wirklichkeit nur einen schmalen Raum bürgerlich-humanistischer Bildungswelt und Bildungsreligiosität: sie reichte nicht einmal von Weimar bis zum nahen Naumburg, dessen Stifterfiguren Goethe nie sah, sie umspann vom Großraum der Antike nur ein, zwei hellenistische Jahrhunderte, vom Italien zweier Jahrtausende nur eine merkwürdige kurzlebige Zwischenschicht, einen Teil der Renaissance und des Manierismus umfassend. Mit steigendem Grauen wandte sich Goethe von seinen editesten und tiefschürfendsten Erben ab, von jenen, die mit Hölderlin den Gang zu den „Müttern“ weitergingen (seine Iphigenie bleibt unerbittlich stehen — bei den „Vatergöttern“) — er wußte zutiefst, daß dieser Weg, der in den Hainen des Göttinger Hainbundes harmlos, im Hain der Diana noch ohne Arg, begonnen hatte, über die Ströme Hölderlins zu den Stromscürzen des neuen Dionvsos Nietzsches führen mußte. Liturgie der Menschen — Feierdienst der hohen Schöpfermächte i m Menschen — muß zur Liturgie der Dämonen werden, wenn deren Kräfte nicht tatsächlich gebunden werden: in der Beschwörung, in der Bannung eines Gottesdienstes, dessen Gottheit nicht bloß der Spiegel eines menschlichen Sonnengottes ist. Einzigartige Stunde der „Iphigenie“: sie weiß noch um das echte WunderGottes, aber es wandelt sich in ihren Zauberhänden bereits zum Wunder des Menschen, zum Spiel der Selbsterlösung...

In einer wunderschönen Aufführung hat die Burg viel getan, um dieses Mysterium des zweiten deutschen Humanismus würdig zu begehen. Dieser klassischen Aufführung, welche wir Raoul Aslan verdanken, spendete das Publikum der Erstaufführung ergriffenen Beifall.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung