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Die Iphigenie der Ruhrfestspiele in Wien

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Festspiele auf Reisen. Wien ist seit Jahren gewohnt, etwa Inszenierungen der Salzburger Festspiele in der Herbstsaison im Burgtheater zu sehen. Warum auch nicht? Was im Sommer gut, teuer und fern für viele ist, wird im Herbst nicht schlecht, wenn es weniger teuer und nah, für einige tausend Besucher mehr erreichbar ist. Von dem dreitägigen Gastspiel des Ruhr-Festspielensembles Gustav Rudolf Sellners in der Josefstadt läßt sich als negativ nur behaupten, daß es zu kurz war. Diese „Iphigenie auf Tauris” hat auch Wien, den Wienern und unserer Theaterkultur etwas zu sagen und zu geben. Sellner ist seit Jahren als einer der interessantesten deutschen Regisseure bekannt. Als einer, der allerlei wagt. Maria Wimmer, seine Iphigenie, ist eine der bedeutendsten lebenden deutschen Schauspielerinnen. Also war man gespannt.

— Sellner und Frau Wimmer dramatisieren die Iphigenie ganz nach innen hinein. Ruhe, Stille, ein lastender Himmel und ein weites Meer tragen statisch den Außenraum. Da ist nur noch der Altar, Richtblock, Guillotine zugleich. Da stehen noch, lastend, wie eherner Himmel und Meer, die Barbaren. Blöcke, hilflos in ihrer menschlichen, männi- schen Schwere. (Wolfgang Golisch beachtsam als der König.) Von den zwei Griechen-Jünglingen muß nicht gesprochen werden. Vielleicht sollen sie wie Falken in den Innenraum einfallen, der Iphigenie ist. Sie wirken bestenfalls als Sperber, die Nachrichten bringen. Iphigenie ist alles: ein Raum nach innen, aus dem es, mitten aus Stille und Adel, aufbricht. Das furchtbare Schicksal ihres Geschlechts; die Geschichte der Menschheit: Mörder, Betrüger, Meineidige; die doch als Gäste der Götter geladen waren.

Selten hat eine Iphigenie-Aufführung so stark diese beiden Pole (in Goethe auch!) aufgezeigt: wie da in einem Menschen das Wissen präsent, eingesengt ist von ungeheurer Schuld aller Ahnen, aller Geschlechter. Und wie damit verbunden ein Wissen ist um schreckliche Finsternisse im „Abgrund der Gottheit”. Wer Maria Wimmers „Lied der Parzen” hört, erschrickt. Und erfährt etwas vom Erschrecken Luthers über den „verborgenen Gott” und vom Erschrecken der Mystiker über die dunkle Nacht der Gottheit. — Goethes Urüberzeugung von wahrem Frommsein — sich an Gott „lassen”, wenn er den Menschen „preßt” und dann wieder „entläßt” — dieses sein Wissen um das Ein- und Ausatmen, das zu je dem Lebendigen gehört, wird in dieser Aufführung Wirklichkeit. Schade, daß nur drei Abende Wien die Möglichkeit boten, sich von dieser Iphigenie ergreifen zu lassen.

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