Sind in die Brüderlichkeit auch die Feinde, die Gegner, die Bestien, die Sünder, die Abgefallenen, die Heiden, die Verbrecher miteinzubeziehen? Nach der Bibel, nach dem Neuen Testament gilt nicht jeder Mensch, sondern nur der Gläubige, eben der Glaubensbruder, als Bruder. Brüderlichkeit tendiert also auf die Umarmung von Brüdern und nicht von Heiden.
Der Brudertitel wird von der Wiedergeburt, also von der Taufe abgeleitet. Zur genannten Einschränkung kommen im Neuen Testament noch disziplinäre Maßnahmen gegenüber den Sündern und Gesetzlosen, die wie „Heiden und Zöllner“ anzusehen sind. Es geht dabei um das Heil sowohl des einzelnen Betroffenen wie das der ganzen Gemeinde.
Im Neuen Testament, vor allem bei Paulus, gibt es genug und überzeugende Anhaltspunkte, daß die Wahrheit und das Heil Vorrang haben gegenüber politischen Überlegungen, autoritären Traditionen, auch wenn das daraus resultierende Handeln zunächst als unbrüderlich erscheinen mag, im Endeffekt aber erst eine echte und glaubwürdige Brüderlichkeit ausmacht.
Im Neuen Testament kommt ein deutlicher Unterschied zwischen der Brüderlichkeit und der Liebe zum Vorschein. Während der Bruderbegriff deutlich limitiert ist, soll die Liebe allen Menschen, selbst den Feinden gelten, wohl auch deshalb, weil disziplinäre Maßnahmen, die im Brüderlichkeitsbegriff eingeschlossen sind,' sich nur auf Mitglieder, auf die eigene Kirche, erstrecken können. Das heißt, daß einem die mühevolle Arbeit nicht erspart bleibt, Inhalte zu suchen. Grenzen abzustecken, Maßnahmen zu ergreifen, einen Standpunkt zu beziehen, Liebe, Brüderlichkeit durchaus auch als Anstrengung, Mühe, Leistung zu sehen, was von manchen zu Unrecht geleugnet wird.
Ohne Weg, ohne Richtung, ohne Ziel, ohne W'ahrheit gibt es keine Brüderlichkeit. Mehrheit und Wahrheit decken sich nicht einfach, noch weniger sind sie ident. Ein Grund mehr, warum Brüderlichkeit notwendig auf Inhaltlichkeit verwiesen bleiben muß. Irrwege, Gefahren, Einseitigkeiten, Grenzen, Kritik der Brüderlichkeit müssen um der Wahrheit und der richtigen Vorgangsweise willen sehr ernst genommen werden.
Die Ausflucht oder Flucht vor einer Stellungnahme, vor einem Standpunkt, einer Entscheidung, einer Verantwortung bedeutet daher nur eine Quasi-Brüderlichkeit, in Wirklichkeit einen Verrat an der Brüderlichkeit.
Für mein Verständnis gibt es keine Brüderlichkeit ohne Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit gehört zur Grundlage, zur Struktur, zum Wesen der Brüderlichkeit. In der Französischen Revolution hat man übrigens ernsthaft überlegt, anstelle des Begriffs der Brüderlichkeit denjenigen der Gerechtigkeit zu verwenden. Gerechtigkeit und Wahrheit sind zwei ganz wesentliche Kriterien der Brüderlichkeit.
Ein „Fest der Brüderlichkeit“ darf weiters kein Fest der Unverbindlichkeit, der Oberflächlichkeit, der bloßen Öffentlichkeit sein.
Was hilft der Zweckoptjmismus und das große Gerede von den großen positiven Veränderungen, wenn in entscheidenden Punkten alles beim alten bleibt, wenn die Feindschaften zwischen den einzelnen politischen und religiösen Gruppen liebevoll gepflegt werden, wenn man den „Bruder“ sterben zu lassen bereit ist, nicht nur auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho. —
Die Hans-Dampf-Brüderlichkeit, die Shakehands-Brüderlichkeit, die Make-up-Brüderlichkeit, die sofortige und unbekümmerte Du-Wort-Brü- derlichkeit unterspielt bewußt und unbewußt, bietet oft ein Alibi im Sinne einer Kompensation an: um sehr breite und sehr rasche Anerkennung zu finden, um keinen Widerspruch und keine Aggression zu wecken, um so selber keine Schwierigkeiten zu haben, um eigene Schwächen, eigenes Unvermögen zu verdecken.
Brüderlichkeit - ein Wort, das für den einen vielversprechend, für den nächsten langweilig, für viele sogar ’abschreckend klingt. Es hat eine lange Geschichte, und ist doch nie wirklich Geschichte geworden, sondern Programm, Fragment oder Vision geblieben, am häufigsten aber nichts anderes als Täuschung, Vorwand und Alibi gewesen.
Der Autor ist Vorstand des Instituts für Philosophie und Fundamentaltheologie an der Universität Graz - und hat zum Thema des Steirischen Katholikentages 1981 „Ein Fest der Brüderlichkeit" ein Referat gehalten, das wir auszugsweise wiedergeben.