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BRUDER UNTER EINEM VATER

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Vor wenigen Tagen bin ich aus Rom zurückgekehrt, wo mich der Heilige Vater in das Konsistorium berufen hat. Ich habe mich gefreut über den offensichtlichen Huldbeweis, den der Heilige Vater in meiner Person dem österreichischen Volk erwies. Noch stehe ich unter dem Eindruck des Erlebnisses der weltumspannenden Gemeinschaft der Kirche, wie sie sich gerade in dieser Versammlung der Kardinäle aus aller Welt neuerdings dokumentierte. Unsere Kirche wird mit jedem Pontifikat und mit jedem Jahrzehnt mehr d i e katholische Kirche, die allgemeine Kirche, die Kirche über allen Rassen, Völker und Zonen. Und diese Kirche wird regiert, geführt, geleitet von einem Mann, der wahrhaftig ein Vater, ein Vater der Güte, der Weisheit, der Gelassenheit, des Verstehens, des Mitfühlens ist. All diese Namen, all diese Eigenschaften gewinnen bei ihm neue Wirklichkeit und neues Leben. Er ist wahrhaftig der Vater, und wir alle, wo immer wir sind und worin immer wir uns unterscheiden mögen, müssen unter einem solchen Vater Brüder sein.

Der Heilige Vater hat uns Kardinäle entlassen mit einem väterlichen Gruß an die Katholiken aller Länder, mit einem väterlichen Gruß an uns und unsere Brüder. So sei denn mein erster Gruß als Kardinal dieser Gruß der Brüderlichkeit an die Katholiken der Diözese, an die Katholiken unseres Vaterlandes. Daß dieser Brudergruß des Papstes, den der Kardinal weitergeben darf, ein Weihnachtsgruß ist, mag kein Zufall sein. Wann denn als zu Weihnachten, an der Krippe des Erlösers, im Stall zu Bethlehem, spüren wir es stärker, daß vor dem zum hilflosen Kind gewordenen Gott all unsere Unterschiede leer und nichtig sind, daß wir alle gleich sind in Schuld und Gnade, in der Hoffnung und in der Liebe, daß wir alle Brüder sind. Wir haben den Ruf der Brüderlichkeit beim Wiener Katholikentag im Sommer dieses Jahres vernommen. „Ihr alle aber seid Brüder“ hieß ja das Leitwort dieses festlichen Tages. In Kommissionen, Studientagungen und Arbeitskreisen wurde um das beste Verständnis der Probleme in Staat und Gesellschaft, in Beruf und Familie gerungen, in den Kundgebungen sollte das Bewußtsein, daß wir alle Brüder sind, zwingendes Erlebnis werden. Wir alle haben uns damals gesagt, daß diese Kundgebungen, so glanzvoll sie auch waren, leere Demonstration und eitles Gepränge wären, würde uns das brüderliche Wort dieses Katholikentages nur für die wenigen Stunden seiner Veranstaltungen bewegen und wir uns dann wieder einsperren lassen von unseren eigenen Wünschen und Vorstellungen, uns einkapseln in Eigensucht und Eifersucht, für uns selbst wohl fordernd, aber nicht bereit, zu geben und zu teilen. Und wir haben uns damals gelobt, diesen Katholikentag und gerade seinen Ruf zur Brüderlichkeit weiter wirken zu lassen, dort, wo er wirksam werden soll, in Staat und Gesellschaft, Beruf und Familie. Wir haben uns gelobt, diesen Ruf zur Brüderlichkeit hinauszutragen, hinaus aus mancher Enge unserer Vorstellungen, aus den Mauern unserer Vorurteile, aus den Barrikaden unserer Aengste. So soll denn auch das kommende Jahr, erwachsend aus dem Katholikentag, ein Jahr der Brüderlichkeit seinl

Soll dieses Jahr der Brüderlichkeit ein Jahr der Tat und nicht der Phrase sein, müssen wir im Naheliegenden und im Konkreten beginnen. Beginnen wir bei uns selbst. Wieviel Streit, wieviel Eifersucht, wieviel Kleinlichkeit gibt & noch bei uns, wieviel Enge, wieviel Uebelwollen, wieviel Sichabschließen. Aber Brüderlichkeit heißt doch vor allem: auf den anderen hören, ihn reden lassen, ihn verstehen wollen, nicht ihn verlachen, verleumden, verketzern. Wenn mein Bruder anders denkt als ich, muß er noch nicht falsch denken, wenn er einem anderen Verein, einem anderen Verband, einer anderen Organisation, einer anderen Klasse angehört, ist er da nicht mehr mein Bruder? Ja gewiß, unter Brüdern, unter leiblichen Brüdern meine ich, gibt es oft auch harte Auseinandersetzungen, gibt es ein Mühen und Ringen der Kräfte. Und so soll es sein. Brüderlichkeit heißt gewiß nicht ängstliches Ducken und feiges Verschweigen. Brüderlichkeit heißt offenes Reden und offenes Ringen. Niemals aber darf vor den Augen des Vaters die Auseinandersetzung so weit gehen, daß der Bruder dem Bruder die Bruderschaft aufkündigt, daß er zu ihm sagt: „Du bist nicht mein Bruder, weil du anders denkst, weil du anders fühlst als ich. Du darfst nicht mit mir im gleichen Haus des Vaters wohnen.“ Niemals darf es unter Katholiken so weit kommen, daß der eine dem anderen im Zorn sagt: Du kannst kein Katholik, kein Christ sein, weil du in der Gestaltung mancher Dinge dieser Welt anders denkst. Niemals darf einer von uns einem anderen die Tür weisen, wir wohnen ja in einem Haus, weil wir Kinder des einen Vaters sind, wir alle auf dem Boden des gemeinsamen katholischen Glaubens stehen. In wieviel Dingen sich auch die Kinder unterscheiden, wie groß in ihren Augen auch der Abstand ist, der sie voneinander trennt, in den Augen der Mutter ist er klein gegenüber der Tatsache, daß sie alle ihre Kinder sind. Wir alle sind die Kinder unserer Mutter, der Kirche. Alle Kinder stehen ihr gleich nahe.

Ein Jahr der Brüderlichkeit unter den Katholiken, ein Jahr der Brüderlichkeit in Oesterreich! Dieses Jahr wird als Wahljahr große Auseinandersetzungen bringen. Wir wollen hoffen und alles tun, daß die Spannungen und Gegensätze im Rahmen des für das Volksganze erträglichen Maßes bleiben.

Dieser Gruß der Brüderlichkeit ist ein Gruß des Heiligen Vaters. Es ist für mich eine große Freude, daß ich meinen ersten Weihnachtswunsch als Kardinal an das katholische Volk in Oesterreich mit dem Weihnachtsgruß und dem Weihnachtswunsch des Heiligen Vaters verbinden darf. Er hat gerade uns Oesterreicher in den wenigen Wochen seines bisherigen Ponti-fikates einen großen Beweis seines Wohlwollens und seines väterlichen Verständnisses gegeben. Wir wollen seine Güte damit erwidern, daß wir seinen väterlichen Gruß als eine brüderliche Verpflichtung aufnehmen. Der Heilige Vater erblickt im österreichischen Volk ein katholisches Volk. Wir werden in dem Maß ein katholisches Volk sein, als wir ein brüderliches Volk sind. In dieser Brüderlichkeit, die alle österreichischen Katholiken umschließt, alle Menschen des einen katholischen Glaubens, zu dem sich 90 Prozent des österreichischen Volkes bekennen, werden wir auch jene Probleme lösen, die uns und dem Heiligen Vater am Herzen liegen.

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