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Brüderlichkeit

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Brüderlichkeit! Denken wir kurz zurück, was sie einst war. Fraternitas: die Bruderschaft in Orden und geistlichen Verbänden. Fraternite: im Verband mit „Freiheit“ und „Gleichheit“ bildete sie, im Gefolge der Französischen Revolution, das dreifarbige Banner der „erwachenden Völker“. In ihrem Zeichen zogen die revolutionären Brüder aus, um nationale und internationale Bünde sehr verschiedener Art im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu gründen. Früher Abgesang gioßer Hoffnungen: Schillers „Räuber“. Aus einer Bruderschaft idealistischer junger Menschen ist eine „Bande“ geworden. Die Kumpaneien loser Gesellen haben ebensowenig wie die sehr gewalttätig gegründeten Zwangsbruderschaften totalitärer Parteien und Klubs dazu beigetragen, Brüderlichkeit im Vollsinn gesellschaftlicher Realität zu verwirklichen: vertan, verraten wurde da die Brüderlichkeit links und rechts und auch in der Mitte.

Im christlichen, im katholischen Raum der letzten zweihundert Jahre war sie, das Mädchen aus der Fremde, nie recht, heimisch geworden. Das Monastische, die Spiritualität der Orden war erlahmt; im Raum der Welt und Weltlichkeit wurde die Brüderlichkeit einerseits durch Revolutionäre, anderseits durch Sekten präsentiert. , .

Brüderlichkeit heute, ernst genommen, jenseits der Schwarmgeisterei, jenseits der Sentimentalität und jenseits billiger, vorschneller An-empfindung muß einige Voraussetzungen erfüllen. Reife und reine Brüderlichkeit ist eine Tugend, Tüchtigkeit des „Mannes“. Des gereiften Menschen, der sich zur Brüderlichkeit bekennt, weil er eine hohe Achtung vor sich selbst und vor jedem anderen besitzt. Brüderlichkeit zu leisten ist nämlich nur der Mensch imstande, der sich eine ganz vitale Erfahrung der unverletzbaren Würde seiner eigenen Person und jedes anderen Nienschen im Kampf seines Lebens um echte Selbstbehauptung erworben hat. Brüderlichkeit ist kein Spiel für selbstverliebte, kranke Seelen, sondern das Geschäft, der Beruf des Starken. Nur der innerlich starke, Menscit kann es sich leisten, offenen Gesichts, mit offenem Visier .kämpfend, für sein Wort und seine Sache eintretend, mitten im Widerstand Brüderlichkeit zu üben. Dem Partner, dem Gegner, dem Feind, dem Genossen im eigenen und fremden Verband gegenüber.

Brüderlichkeit ist in diesem Sinne die politische- Tugend des freien Menschen katexoehen. • Nur der Freie, der Freude an der Freiheit hat, wagt Brüderlichkeit.

Eine Gesellschaft von Freien ist, unter welchem Himmel immer sie gewachsen sein mag, an eben dem erkennbar: an einer ganz unsentimentalen, bisweilen recht „harten“ Brüderlichkeit. In den Bergen der Schweiz und in den riesigen Weiten des amerikanischen Kontinents ist diese Brüderlichkeit in einer großen Vergangenheit im Prüfstein der Versuchung und Bewährung Wirklichkeit geworden. Gesellschafts-bildende Wirklichkeit.

Politische Gesellschaft wurzelt und nährt sich, als ein Lebendiges, immer von einem Glauben; und verfällt, wenn dieser ausfällt, Ideologien, Ersatzbildungen. Brüderlichkeit in unseren Räumen kann nur gedeihen, wenn sie ihr Fundament in einem unerschütterlichen Glauben findet. Wir sind Brüder, inögen wir es auch nicht wissen und nicht wollen, weil keiner von uns sich selbst erschaffen hat. The family of meu, die Menschheit eine Familie (Titel einer weltbekannten amerikanischen Ausstellung). Die Völker iine Familie. Die Christenheit eine Familie. Sie alle zusammen: eine Familie von ständig streitenden Brüdern, die sich im Streit finden, formen, selbstdarstellen seilen.

Wem das gelingt, der braucht nicht für die Zukunft zu bangen. Wohl aber gilt: Wer die Brüderlichkeit entstellt, der hat einiges zu befürchten. Er lädt sie aus und ladet unbewußt und ungewollt schreckliche Gäste in das verlassene Haus ein. Es tut nicht not, 1958 nochmals ausführlicher an 1938 und manche bittere Jahre zuvor zu erinnern. 1

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