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Prioritäten

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Jetzt fangen die Franzosen mit ihrem Gedenken und Bedenken an. Die feiern heuer 200 Jahre Französische Revolution. Die französischen Zeitungen haben zwar stark mitbedacht, wie arg wir Österreicher sind — im vergangenen Jahr -, wir aber müssen uns zurückhalten, wenn die Franzosen ihr Fest begehen. Wir können nicht mit einem geköpften Kaiser aufwarten, unr haben, von unten, nie so richtig revoltiert. Ob’s nun 1848 war oder 1918 - lauter halbe Sachen!

Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!

Neugierig bin ich, ob man sich in diesem heurigen Bedenkjahr an die vergessene Parole der Französischen Revolution erinnert: an die Brüderlichkeit.

Was müssen sich die Christen an mißglückter Brüderlichkeit zuschulden kommen haben lassen, an Vergeßlichkeit gegenüber ihrem Auftrag, an dumpfer Ahnung slo-sigkeit und machtbewußter Ignoranz — daß sich Revolutionäre der Brüderlichkeit annehmen mußten: aus Idealismus und Begeisterung, aber auch aus der Erkenntnis, daß Freiheit und Gleichheit in Verzerrungen und Verfehlungen ausarten müssen, wenn die Brüderlichkeit als Regulativ fehlt.

Aber schon während der Revolution wurde die Fra-ternite durch den praktizierten Brudermord zur Phrase.

Einst wurde versucht, die Brüderlichkeit mit Hilfe der Solidarität zu retten, aber seit auch Osterreich von der Wende erfaßt wurde, hat die Solidarität keine Chance mehr. In der Diskussionsunterlagefür den geplanten Sozialhirtenbrief der österreichischen Bischöfe „Sinnvoll arbeiten - Solidarisch leben“ wird gefordert, daß die Solidarität wachsen können müsse. „Mißtrauen entsolidarisiert“, heißt es in diesem Grundtext.

Diese Tendenz ist richtig, „weil sich die Menschlichkeit einer Gesellschaft daran entscheidet, ob die Verbesserung der Lebensbedingungen für die Ärmsten, für die sozial Deklassierten, die höchste Priorität hat“. So formulierte es jüngst Wolfgang Huber, Professor für systematische Theologie (Sozialethik) an der Universität Heidelberg.

Gibt es diese Priorität bei uns - oder handelt man nach der Pferd-Spatz-Theorie des John K. Galbraith? Man muß das Pferd nur kräftig füttern, damit auch der Spatz etwas zu fressen findet.

„Alle Politik hebt beim Menschen an“, hat Hermann Broch noch gemeint. Welch ein Irrtum. Nicht der Mensch steht im Mittelpunkt unserer Gesellschaft, sondern die Produktivität. Und weit weg sind wir von der Solidarität, die kein Ersatz für Brüderlichkeit ist. So wie Sozialgesetze kein Ersatz für Mitleid sind.

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