6645698-1958_22_09.jpg
Digital In Arbeit

Im Geiste wahrer Liebe

Werbung
Werbung
Werbung

Wir müssen eine merkwürdige Tatsache feststellen: Obwohl die Entwicklung der Sozialgesetzgebung den Menschen weniger Arbeitszeit und mehr Urlaub verschafft, obwohl die moderne Technik immer neue Mittel erfindet, um die Arbeit zu erleichtern und die Mühen des Alltags zu verringern, sind die Menschen heute unzufriedener, gehetzter, nervöser und haben viel weniger Zeit als früher — offenbar Symptome-, einer aus den Fugen geratenen Gesellschaftsordnung, die sich auf das Versagen der kleinsten Zelle des gesellschaftlichen Gefüges, der Familie, und auf das Versagen der Einzelpersönlichkeit überhaupt zurückführen läßt. Diese Tatsachen sind aber alarmierend für das christliche Gewissen, für die Katholiken, die es noch mit ihrer Religion ernst nehmen wollen und sich für die Erneuerung der privaten und öffentlichen Sphäre im Geiste des Evangeliums Christi verantwortlich fühlen.

Gerade Oesterreich, das sich einer vorbildlichen sozialen Gesetzgebung rühmen darf, kann uns auch Beispiel dafür sein, daß die besten Sozialgesetze sinnlos bleiben, wenn nicht wahre soziale Gesinnung ihre sinngemäße Verwirklichung garantiert. Es ist darum nicht verwunderlich, wenn die kirchliche Obrigkeit unserer Heimat in Erfüllung ihres göttlichen Auftrages, dem sozialen Frieden den Weg zu bereiten, in unseren Tagen ihr Hauptaugenmerk der sozialen Frage zuwendet und die Prinzipien christlicher Soziallehre im Sozialhirtenbrief der Bischöfe Oesterreichs neu aufzeigt.

Um nun die soziale Gesinnung in den Herzen der Gläubigen zu verlebendigen und zu vertiefen, um die Forderungen des Sozialen Hirtenbriefes nach den Gegebenheiten in unserer Diözese einer praktischen Verwirklichung nahezubringen und das gläubige Volk vom sozialen Dkzur,sozialen Tat weiterzuführen, absn wir Bischöfe unter der Parole „Nicht Knechte, sondern Freunde“ zum diözesanen Katholikentag am 1. Juni 1958 in St. Pölten aufgerufen.

Wir sind überzeugt, und die Erfahrung bestätigt es, daß die religiösen Kräfte und die christlichen Grundsätze besser als jedes andere Mittel geeignet sind, die Gesundung der modernen Gesellschaft zu ermöglichen. Das zentrale Anliegen des Christentums ist die Liebe. Christus hat uns ein neues Gesetz gebracht, das Gesetz der Liebe, das bei weitem das alte Gesetz der Gerechtigkeit übertrifft. „Caritas“, lehrt der heilige Thomas, „ist die Liebesfreundschaft des Menschen mit Gott.“ Freundschaft aber verlangt eine gewisse Gleichheit, eine Gemeinsamkeit des Lebens und Besitzes; sie erfordert gegenseitige Zuneigung und wechselseitiges Wohlwollen. Freundschaft verlangt nach gegenseitiger Liebe. Gott ist uns mit seiner Freundesliebe zuvorgekommen. Gott hat uns zuerst geliebt und uns liebend die Gnade und Liebe eingegossen, die uns befähigen, seine Liebe zu erwidern. Das Maß unserer Gottesliebe soll sich in der Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern offenbaren. Es genügt aber nicht, dem Nächsten, dem Mitmenschen keinen Schaden zuzufügen, wir müssen vielmehr wahre Bruderliebe gegen ihn üben. Es genügt keineswegs: „nicht zu töten“, um dem „Gericht“ zu entgehen, sagt der Herr, sondern „wer seinem Bruder zürnt, ist des Gerichts schuldig“. Das neue Gesetz Jesu bietet also einen ganz anderen Blickpunkt. iEs genügt nicht, nach außen gerecht zu sein, man muß auch zuinnerst gerecht sein, im Herzen. Es genügt nicht, den Nächsten nicht äußerlich zu beleidigen; man muß auch die innere Abneigung vermeiden und bekämpfen. Der Herr verlangt auch im äußeren Umgang mit dem Nächsten wahres Zartgefühl von uns, indem er fordert, daß nicht nur verletzende Taten, sondern auch kränkende Worte vermieden werden. Und diese brüderliche Liebe und Eintracht liegt ihm so am Herzen, daß er nicht zögert, uns zu sagen: „Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar, geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder.“

Der Katholikentag will also vor allem die Brudergesinnung, die Liebesfreundschaft im Herzen der Christen entfachen, damit sie im Geiste wahrer Christusliebe den Alltag gestalten. Der Aufbau des modernen Lebens muß nach dem Gesetz des Evangeliums geformt und eine Gesellschaftsordnung christlicher Brüderlichkeit geschaffen werden. Dazu ist aber notwendig, daß eine tiefgreifende persönliche Erneuerung eine möglichst große Zahl von Christen erfasse. Erst dann ist der Weg zur Erneuerung der Gemeinschaft vorgezeichnet. Der Kirche fällt die Aufgabe zu, bei der Anwendung der Botschaft Christi auf die Verhältnisse der heutigen Zeit, Führerin zu sein. Kirche sind aber nicht nur Papst, Bischöfe und Priester allein, Kirche ist die übernatürliche Lebensgemeinschaft aller Katholiken, geeint in ihrem Haupte Christus. Kirche ist das Volk Gottes. Der Katholikentag will daher auch eine eindrucksvolle Demonstration dafür sein, daß die Kirche sichtbar lebt, daß in ihr Christus selbst durch die Zeit geht, um der Welt immer wieder den Frieden, auch den sozialen Frieden zu bringen.

Soziale Gesinnung muß zur sozialen Tat führen. Darum soll als Frucht des Katholikentages durch die Errichtung eines Familienfonds vor allem der Familie geholfen werden.

Die Bischofstadt St. Pölten ist gerüstet zum festlichen Empfang. Ein „Herzlich willkommen“ gilt allen Brüdern und Schwestern aus Stadt und Land. Nicht Knechte, sondern Freunde! Der Herr segne unser Wollen, er lösche aus den Geist entwürdigender Knechtschaft und entflamme in unseren Herzen die Gesinnung wahrer Freundschaft und Bruderliebe.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung