6814476-1972_52_16.jpg
Digital In Arbeit

Das Mißverständnis von Wagrain

Werbung
Werbung
Werbung

Der gegenwärtige Stand der zeitgenössischen Literatur ist einem Versuch nicht günstig, sich über das Werk Karl Heinrich Waggerls zu verständigen. Es scheint fortgerückt aus unseren Tagen, obschon ihm tatsächlich nur das Substrat, die soziale Wirklichkeit, abhanden kam, entzogen wurde: das salzburgische Bergdorf als Gleichnisformel für menschliches Geschick innerhalb einer anschaubaren, weil überschaubaren, jahrhunderteher tradierten Welt.

Natürlich war diese schon zu Beginn der zwanziger Jahre mehr Relikt als Welt, gemessen bereits am nächstgelegenen Industrieort. Allein für den tuberkulösen hungernden Lehrer, der eben erst als Kriegsgefangener in Amalfl Matthias Claudius hatte lesen lernen, waren St. Veit und dann Wagrain weder Relikt noch Welt, sondern einfach der Flecken, auf dem er wiederum anfing, weiterzuleben, was ohnehin weniger einem Anfang glich als einem Ende: der junge Lehrer wurde binnen Monaten krankheitshalber pensioniert.

Man muß das folgende Jahrzehnt veranschlagen, ehe man heute aus fettdotierter Naseweisheit ihm vorhält, nochmals 1 in einer Erzählung von „fröhlicher“ Armut gesprochen zu haben. Nun, das Dorf, reduziert auf archaische Bilder seiner Gattung, wurde Welt über Knut Hamsun, genauer, des Norwegers „Segen der Erde“, noch genauer, der Sandmeier-schen Ubersetzung des Romans. Verkürzt und anachronistisch gesagt: Waggerl wurde nach Sandmeier der Waggerl;. mit dem Waggerl vorher ist zumindest ein Stück Thomas Bernhard verlorengegangen, möchte man heute denken, liest man die vor 1930 geschriebenen Geschichten von 1926 nach, darin die Bauern noch nicht gottergeben den Hut drehen, sondern dumpf sind und gewalttätig und voll Schnaps und stinken.

Aber davon weiß kaum jemand etwas und Waggerl selbst will es schon lange nicht mehr wissen. Ich erinnere daran zu seinen Gunsten und gegen diejenigen, welche glucksend den „tröstlichen“ Humor zitieren. Der ist nämlich selten tröstlich, sicher meistens hinterhältig, oft schwarzfleckig. Denn mit dem Trost hat es bei Waggerl ebenso seine Eigentümlichkeit wie mit Gott: er redet immer wieder von beiden, jedoch scheint es eher brauchtümlich als gläubig geredet. Den Trost und den Glauben haben nur die Leute in den Büchern, als Unterstellung, nicht aber der, der die Bücher gemacht hat. Gott als bauernbarocker Zierat — einleuchtend, daß da Kritik fündig wird.

Karl Heinrich Waggerl hat in den letzten fünfzehn Jahren kaum ein Wort geschrieben, bloß dann und wann ein Vorwort. Resignation. Die Gründe dafür sind mannigfaltig, auch verschiedenen Gewichtes. Hier ist viel zu beklagen und viel zu verschweigen. Indes, man halte sich an eine Prosa von weithin großer Schönheit und hohem Raffinement.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung