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Glückskinder leben gefährlich

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Es war einmal ein junger Mann, anständig, tüchtig und erfolgreich. Dieser märchenhafte Anfang soll nur andeuten, wie märchenhaft sich oft die Wirklichkeit herausputzt. Dieser junge Mann war eben ein Glückskind. Bei ihm ist alles gut gelaufen. Er hatte eine wohlbehütete Kindheit und wurde geradezu zwangsläufig zu einem braven, folgsamen Buben.

Bei seinen Eltern fühlt er sich wohl, ja er kann sich gar nicht vorstellen, woanders zu leben. Einen Bruder hat er auch noch, einen älteren. Aber er ist der Liebling der Eltern, er wird in jeder Hinsicht bevorzugt. Ist ihm das überhaupt aufgefallen? Wenn ja, macht er sich Gedanken darüber? Oder findet er das ganz selbstverständlich, wo er doch so lieb, so brav, so fleißig ist.

Sein Bruder hat das alles nicht nur mitbekommen, sondern er hat darunter gelitten und allmählich beachtliche Aggressionen entwickelt. Aber der brave Bub weiß nichts von dem, was in seinem Bruder vorgeht. Er lebt wie ein Königskind. Diese Kindheitserlebnisse haben den Buben für sein Leben geprägt, vielleicht sogar seinen Tod verschuldet. Der Haß seines Bruders ist so groß geworden, daß er ihn eines Tages erschlagen hat.

Und die Moral von der Geschichte, der Geschichte von Abel und Kain? Die Glücklichen, die Erfolgreichen, die Glückskinder also, haben oft gar keine Ahnung, wieviele Aggressionen sie wecken, wie unbeliebt, ja verhaßt sie sind. Aber die Glücklichen wollen das nicht wahrhaben - wie Abel. Für Abel ist das ganze Leben ein Ausbund an Positivität. Er ist überzeugt davon, daß sein Glück, seine Bevorzugung letztlich Gottes Wille ist.

Hätte Gott Abel gefragt, wo sein Bruder Kain sei, dann hätte Abel wahrscheinlich gesagt: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Nur eines hat noch zu Abels Glück gefehlt, nämlich daß sich Kain darüber freut, daß er gem die Nummer zwei spielt: Hätte es Kain ganz in Ordnung gefunden, daß er weniger Liebe, Erfolg, weniger Anerkennung findet, dann wäre Abels Glück vollkommen gewesen.

Man sollte meinen, daß niemand so naiv, blöd und arglos sein kann. Aber man frage doch einmal die Glückskinder dieser Welt, ob ihnen ihr Glück, ihre Bevorzugung schon einmal unerträglich gewesen ist. Haben die Glückskinder je den Gedanken gehabt daß etwas nicht in Ordnung sein könnte, weil es ihnen ständig besser geht als den vielen anderen Menschen?

Haben die Glückskinder je an der Gerechtigkeit Gottes gezweifelt, weil es nur ihnen so gut geht? Wie oft wird Abel noch glauben, daß es für ihn keinen Kain geben könnte?

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