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Hände über der Stadt

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In einer Großaktion verhaftete Italiens Polizei Ende Juni 700 „Mitarbeiter" des neapolitanischen Clans der Camorra. Was danach über das organisierte Verbrechertum ans Tageslicht gefördert wurde, ist selbst für Italien nicht alltäglich.

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In einer Großaktion verhaftete Italiens Polizei Ende Juni 700 „Mitarbeiter" des neapolitanischen Clans der Camorra. Was danach über das organisierte Verbrechertum ans Tageslicht gefördert wurde, ist selbst für Italien nicht alltäglich.

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Der Tisch war reichlich gedeckt. Pasteten, Languste, Südfrüchte -dazu ein trockener Weißwein von den Hängen des Vesuvs. Störend wirkten nur die kahlen Betonwände und das vergitterte Fenster des neun Quadratmeter großen Raumes. Sie beeinträchtigten den Eindruck kulinarischer Opulenz und gaben der ganzen Szenerie etwas Unwirkliches. Sie allein ließen ahnen, daß der einsame Gourmet nicht Gast eines Feinschmeckerlokals, sondern Insasse einer Strafanstalt sein mußte — und so war es auch.

Rafaele Cutolo, „Don Rafaele" oder „professore", wie der allmächtige Boß des bedeutendsten Clans der Camorra, einer neapolitanischen Spielart der Mafia, respektvoll genannt wird, befand sich im Gefängnis der kleinen süditalienischen Stadt Ascoli Pi-cena.

Die ganze Szene liegt nun schon 2wei Jahre zurück und auch die Eßgewohnheiten Don Rafaeles haben sich mittlerweile geändert. Nachdem in ganz Italien publik wurde, welcher Privilegien sich der Boß von über 2000 „Angestellten" eines industriell organisierten Verbrechensimperiums erfreute, wurde Rafaele Cutolo nach Asinara, in den berüchtigten Kerker auf Sardinien transferiert.

Seiner Privilegien beraubt, mußte er dort mitansehen, wie Ende Juni 1983 eine beispiellose Verhaftungswelle 700 seiner früheren „Mitarbeiter" festsetzte. Was die Geständnisse des vielfachen Killers und engsten Mitarbeiters Don Rafaeles, Pasquale Barra, und die minuziös geplante Aktion der Polizei ans Tageslicht förderten, war auch für italienische Verhältnisse nicht alltäglich.

Da wurde mit Enzo Tortora einer der bekanntesten Quizmaster des italienischen Fernsehens verhaftet, sozialistische und sozialdemokratische Lokalpolitiker ar-restiert, der Kaplan des berüchtigten Camorra-Gefängnisses Poggioreale und eine Ordensschwester festgenommen, scheinbar honorige Geschäftsleute wurden enttarnt und Bauunternehmer als Camorristi entlarvt.

Die Anklage lautete stereotyp: Mitgliedschaft in einer mafiagleichen Vereinigung, Erpressung und häufig auch Mord. Allein in der Region Kampanien schreibt die Statistik der Camorra seit 1980 rund 1000 Morde zu.

Die Verhaftungswelle vom Juni dieses Jahres, die einen empfindlichen Schlag gegen das organisierte Verbrechertum um Neapel bedeutet, enthüllte aber nicht nur einzelne Verbrechen und enttarnte „ehrbare" Bürger, sondern sie legt zum ersten Mal den Blick frei auf Strukturen, Geschäftspraktiken und Verbindungen der „Nuo-va Camorra Organizzata" von Rafaele Cutolo:

In den zwanziger und dreißiger Jahren setzte sich die Camorra aus kleinen, autonom operierenden Banden zusammen, die jede für sich, innerhalb eines klar abgegrenzten Territoriums vor allem die Kleinkriminalität zu monopolisieren suchten. Die Aktivitäten waren noch bescheiden, Geschäftsbeziehungen oder blutige Rivalitäten zwischen den einzelnen Gruppen und Familien existierten kaum.

Dies änderte sich mit dem ökonomischen Strukturwandel und der Urbanisierung Süditaliens nach dem Kriege. Zigarettenschmuggel und vor allem die von der öffentlichen Hand finanzierten Bauvorhaben und ehrgeizige Projekte zur Industrialisierung des Mezzogiorno wurden zu den klassischen Operationsfeldern der verbrecherischen Aktivitäten der Camorra.

In den Siebziger jähren stiegen die größten „Familien" der Camorra zu Bauunternehmern und Textilfabrikanten auf, investierten in der Tourismus- und Immobilienbranche, wurden in der Fisch- und Konservenindustrie tätig. Der Kreis zwischen legalen Wirtschaftsaktivitäten und organisiertem Verbrechen schloß sich auf verhängnisvolle Weise.

Gelder, die aus Erpressungen, Prostitution und Drogenhandel kamen, wurden in legale Unternehmungen investiert; „schmutzige" Gelder wurden auf diese Weise gewaschen und dann in normale Wirtschaftsabläufe eingeschleust

Ermöglicht wurde die Expansion der Camorra auch durch ihre enge Verbindung zu verantwortlichen Lokalpolitikern. Zwar existierten nie permanente Beziehungen zwischen der Camorra und einer bestimmten Partei, dafür aber umso intensivere Kontakte zwischen einzelnen Politikern und den Oberhäuptern der „Familien;

In dieser Art von symbiotischer Klientelbeziehung verschafften die Politiker dem organisierten Verbrechen öffentliche Aufträge und blockierten häufig Untersuchungen gegen beschuldigte „Camorristi"; diese wiederum fungierten als Vermittler zwischen Politikern und Wählerschaft, um erfolgreich die Stimmabgabe für bestimmte Politiker zu organisieren.

Kontakte zwischen dem schwarzen, neofaschistischen Terrorismus und der Camorra wurden in Neapel als offenes Geheimnis gehandelt. Bisweilen wurde bei Verhaftungen von neofaschistischen Terroristen auch deren Mitgliedschaft in der Camorra bekannt. Es enthüllte sich die Personalunion von schwarzem Terror und organisiertem Verbrechen.

Als noch spektakulärer erwies sich jedoch die Verbindung von Camorra und der neapolitanischen Kolonne der Roten Brigaden. Inspiriert von der wahnwitzigen Idee, über die Camorra besseren Zugang zu den Ausgegrenzten, den Marginalisierten und Verelendeten des Systems zu finden, versuchten die Brigadisten, ihrem Traum eines breiten, bewaffneten „Volksaufstandes" gegen das „Unterdrückersystem" näherzukommen. Der Plan versandete in seiner eigenen Absurdität. So begnügte man sich mit ideologisch Profanerem — nämlich Geld.

Als 1981 der ehemalige christdemokratische Präsident der Region Kampanien, Ciro Cirillo, von den Roten Brigaden entführt worden war und nach mehreren Monaten überraschend wieder freigelassen wurde, munkelte man von geheimer Kollaboration zwischen Christdemokraten und Roten Brigaden. Doch die Wahrheit erwies sich als noch bizarrer:

Der Geheimdienst und ein christdemokratischer Bürgermeister verhandelten mit Rafaele Cutolo im Gefängnis über die Freilassung von Cirillo. Tatsächlich konnte der Camorra-Boß seine guten Kontakte zu den Roten Brigaden nutzen. Ciro Cirillo kam frei - „Camorristi" und Rotbriga-disten teilten sich das Lösegeld.

Mit den Verhaftungen vom Juni und den nachfolgenden Enthüllungen wurde der unheiligen Allianz von Politikern, organisiertem Verbrechertum und Terroristen ein schwerer Schlag versetzt. Doch die Hoffnung, damit die Camorra zerschlagen zu haben, scheint verfrüht. Denn noch bietet das soziale Elend (etwa 20 Prozent Arbeitslose, 100.000 Obdachlose alleine in Neapel, Unterbeschäftigung, Prostitution etc.) der Region Kampanien ein fruchtbares Rekrutierungsfeld für organisiertes Verbrechertum ä la Camorra.

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