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Kassandrarufe 1905

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„Handschrift und Charakter“, „Die Grundlagen der Charakterforschung“, „Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck“, „Der Geist als Widersacher der Seele“, „Vom kos-mogonischen Eros“ — diese Buchtitel fallen wie Codeworte in unser Ohr und definieren zugleich das umfassende und bedeutende Werk von

Ludwig Klages, das der in Bonn angesiedelte Bouvier-Verlag jetzt in acht Bänden mit zwei Supplementen herausgibt. Und von ihnen soll zunächst die Rede sein.

Ihr Autor ist Hans Eggert Schröder, der dieser immensen Arbeit wohl mehr als ein Jahrzehnt gewidmet hat. In diesen beiden umfangreichen Bänden wird das Leben von Ludwig Klages Jahr für Jahr, oft Tag für Tag, nachgezeichnet und die Entwicklung seiner oft komplizierten Gedanken auch dem Laien verständlich gemacht. Man gewinnt dadurch Einblick in die Lebens- und Werkgeschichte eines ganz großen Denkers und Schriftstellers, der als Einzelgänger von den ersten Gefährten sehr bewundert, aber als Wissenschaftler von der Fachwelt oft gescholten wurde.

Ludwig Klages, 1872 in Hannover geboren, kam bald nach München, wo sein Denken entscheidende Impulse empfing und von wo aus er seinerseits auf seine Umwelt zu wirken begann. Der Verehrer Ibsens und des stabreimdichtenden Basler Butzenscheibenromantikers Wilhelm Jordan befreundete sich hier zunächst mit Friedrich Huch und Hans Heinrich Busse. Aber dann kam Klages in einen anderen Kreis: den um Stefan George, mit Schuler und Wolfskehl als Protagonisten. Damals, 1899, war Schuler 33 Jahre, Wolfskehl 29, Klages erst 26. Wie seine Freunde, hat er sich nach zwei Jahren von George getrennt, da ihm — neben vielem anderen — die Entou-rage des Meisters und die Autoren der „Blätter für die Kunst“ immer heftiger mißfielen ...

In den Wohnungen der „Kosmi-ker“, wie man sie nannte, und im Cafe Luitpold gab es lebhafte Diskussionen, aber wir sehen nur noch den verblassenden Widerschein des Feuers, das in ihren Gesprächen loderte. 1899 fand in Schulers Wohnung das sagenhafte, oft beschriebene „Römische Fest“ statt. Schuler nämlich, der nie etwas von sich hat drucken lassen, besaß die Gabe, sich in vergangene Jahrhunderte, besonders in die römischen, bis zur Identifikation einzufühlen, und von diesen „Erlebnissen“ berichtete er seinen Freunden, später einem immer größer werdenden staunenden und stets faszinierten Auditorium. — Natürlich gehen die Vorstellungen, die man sich in jenem Kreis vom Altertum machte, auf Bachofen und Nietzsche zurück, besonders auf den erste-ren.

Aber in Schwabing wurde nicht nur gedichtet und philosophiert, sondern auch gelebt und gefeiert. Von Hand zu Hand ging Franziska von Reventlow, „die Gräfin“, der man in München mehr, als 100 Liebhaber nachsagte. Sie konnte weder malen (was sie mit Inbrunst tat) noch hatte sie als Schriftstellerin einen Rang, jedoch ihr Tagebuch ist lesenswert. Klages, der mit ihr in einer stürmischen Liaison verbunden war, sich aber später innerlich von ihr löste, sah in Franziska „das Element nordischen Heidentums in strahlender Reinheit“ (!)

1905 gründete Klages das „Seminar für Ausdruckskunde“, mit dem

er 1915 nach Kilchberg in der Schweiz übersiedelte. Dort blieb Klages bis zu seinem Tod im Jahr 1956, denn vom Krieg, den er verabscheute, wollte er nichts wissen. Klages lebte von einer bescheidenen Erbschaft, von der Unterstützung durch Mäzene, von seinen wissenschaftlichen Publikationen (die in sehr kleinen Auflagen zu sehr hohen Preisen herauskamen) und von seiner Vortragstätigkeit, die rapid anschwoll: in der Saison 1909/10 hielt er vier Vorträge, 1913/14 waren es bereits 50 in 30 Städten.

In Wien war er zum ersten Mal 1909. Auf Anregung von Gustav Donath — der übrigens auch Robert Musil immer wieder auf Klages hinwies — sprach er zweimal in der URANIA. Er lernte Rudolf von La-risch kennen, wurde in der Musikerfamilie der Charlemonts freundlich aufgenommen und machte mit ihr eine Reise nach Dalmatien. 1911 war Klages Gast des wohlhabenden Modeautors Richard Voss in dessen Haus auf Capri. Er besuchte Verona, Bologna, Florenz, Pompej und Neapel — und erst auf der Rückreise Rom.

Von der Dichtung nahm Klages frühzeitig Abschied. In einem Fragment aus dem Nachlaß finden sich die zwischen 1900 und 1905 geschriebenen Verse: „Die Lampe schwält schon trübe. Irr schlägt die Nacht herein. Millionen Jahre vorüber...“ Im Stil der „Kosmischen Runde“, die sich in München versammelt hatte, teilte Klages nur einigen Freunden seine tiefsten und geheimsten Einsichten mit: „Wir stehen am Ende der geschichtlichen Menschheit; dem aber wird früher oder später folgen: der Untergang der gesamten Menschheit.“

Das war bereits 1905. Ein halbes Jahr später hatte Klages ein Gespräch mit Schuler, der ihn plötzlich

fragte, „ob ihm kundgetan worden sei, was im Esoterischen vor einigen Monaten sich ereignet hat...“ Klages hat das später dann so beschrieben: Im Mai des Jahres 1905 habe er „unter unendlichem Schauer gefühlt, daß die Essenz diesen Stern für immer verließ, gleichsam entschwebend ins All“. Schreckliche Ereignisse stünden bevor, Zerstörung werde auf Zerstörung folgen, und keine Macht der Welt werde dem Unheil Einhalt gebieten können.

Solche Kassandra-Rufe wollte man im Dritten Reich nicht hören, obwohl einige Gedanken von Klages, so zum Beispiel der vom Geist als Widersacher der Seele, seine Nordgläubigkeit, seine Distanz von christlichem Denken und Empfinden den Irrlehren der Nationalsozialisten verwandt waren. Rosenberg hat eigenhändig den Bannfluch gegen Klages geschleudert, und seine „runden“ Geburtstage durften von der Presse und im Großdeutschen Rundfunk nicht wahrgenommen werden. Aber dank der jetzt erscheinenden Gesamtausgabe, für die dem Verlag wirklich Dank gebührt, wird Klages — sein Werk und seine Persönlichkeit — für unsere Zeit vielleicht wieder lebendig werden.

Der Autor der auf drei Bände berechneten Klages-Monographie hat, gestützt auf Tagebücher, Berichte, Erinnerungen, Gesprächsniederschriften und nicht weniger als 45.000 Briefe, von und an Klages, eine enorme, überaus gewissenhafte Arbeit geleistet und eine der vollständigsten Biographien verfaßt, die wir über einen Autor des 20. Jahrhunderts haben.

LUDWIG KLAGES. DIE GESCHICHTE SEINES LEBENS. 1. Teil: Die Jugend. 2. Teil: Das Werk (erster Halbband 1905 bis 1920). Von Hans Eggert Schröder. Bouvier-Verlag, Herbert Grundmann, Bonn. Zusammen 920 Seiten. Preis 115 DM.

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