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Künder und Erforscher des Lebens

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Nach dem Erscheinen des Buches „Stefan George“ (1901) schrieb Ludwig Klages an seine Freundin Franziska Gräfin zu Reventlow: „Ein Buch von mir ist nun da, und ich weiß, daß es, heute unverstanden, doch in die Zeiten hinausragen wird wie die Säule oder Pforte eines Tempels. Aber ich fühle zugleich, wie wenig doch, von meinem glühendsten Leben darin ist und daß ich noch Leuchttürme aufrichten könnte an Gestaden, zu denen auch die Verwegensten nicht vordrangen. Allein, nicht Bücher sind es, obschon es äußerlich diese Gestalt hat. Leben ist alles, was ich je' schrieb, je schreiben werde, Blattgold des Lebens! Ich fühle manchmal, wie sich meine Seele über die Zeiten erweitert, wie verflossene Jahrhunderte in mir sind und wie der innere Strom an die Tore der Zukunft pocht.“

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Nach dem Erscheinen des Buches „Stefan George“ (1901) schrieb Ludwig Klages an seine Freundin Franziska Gräfin zu Reventlow: „Ein Buch von mir ist nun da, und ich weiß, daß es, heute unverstanden, doch in die Zeiten hinausragen wird wie die Säule oder Pforte eines Tempels. Aber ich fühle zugleich, wie wenig doch, von meinem glühendsten Leben darin ist und daß ich noch Leuchttürme aufrichten könnte an Gestaden, zu denen auch die Verwegensten nicht vordrangen. Allein, nicht Bücher sind es, obschon es äußerlich diese Gestalt hat. Leben ist alles, was ich je' schrieb, je schreiben werde, Blattgold des Lebens! Ich fühle manchmal, wie sich meine Seele über die Zeiten erweitert, wie verflossene Jahrhunderte in mir sind und wie der innere Strom an die Tore der Zukunft pocht.“

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Wer würde diese Sätze einem Manne zuschreiben, der ein Jahr zuvor in Chemie, mit den Nebenfächern Physik und Philosophie doktoriert und 1896 — zusammen mit Hans H. Busse und Georg Meyer — die „Deutsche Graphologische Gesellschaft“ gegründet hatte? Das täte man schon eher jemandem, der im Fin de siecle von Schwabing zusammen mit Alfred Schuler und Karl Wolfskehl die „Kosmische Runde“ begründet hat.

Ludwig Klages, am 10. Dezember 1872 in Hannover geboren und seit dem 20. Altersjahr in München studierend, war eben beides, Dichter wie Forscher, Sänger des Lebens wie nüchterner Wissenschaftler. Diese zwei Naturen kennzeichnen denn auch sein ganzes weiteres Schaffen, das ganz im Zeichen dieser Briefzeilen steht. Er wurde nicht nur als Begründer der wissenschaftlichen Graphologie („Die Probleme der Graphologie“, 1910; ergänzt durch „Handschrift und Charakter“, 1917; 26. Auflage 1968), der Charakterkunde („Prinzipien der Charakterologie“, 1910; erweitert als „Die Grundlagen der Charakterkunde', 1926; 14. Auflage 1969) und Ausdruckslehre („Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft“, 1913; völlig umgearbeitet als „Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck“, 1935; 9. Auflage 1970) bekannt, sondern ebensosehr als umstrittener Metaphysiker. Zwanzig Jahre nach dem George-Buch erschien „Vom Kosmogoni-schen Eros“, in dem, so Hermann Hesse, „auf einigen Seiten fast Unaussprechliches zu Wort geworden“ ist. Nochmals zehn Jahre später war dann endlich das vierhändige philosophische Hauptwerk „Der Geist als Widersacher der Seele“ (1929 bis 1932) abgeschlossen, von dem der Bonner Philosophieprofessor Erich Rothacker sagte: „Neben Heideggers ,Sein und Zeit' und Nicolai Hartmanns .Grundlagen der Ontologie' ist es die bedeutendste Leistung der Gegenwart“.

Sowohl in der Psychologie als auch in der Philosophie kam Klages' Doppelbegabung zum Tragen. Bekanntlich baut sein ganzes Werk — die umfassende Bibliographie von Hans Kasdorff verzeichnet 200 Titel — auf der präzisen Unterscheidung von Seele und Geist, von Lebensvorgängen und dem Bewußtsein davon, auf. Diese systembildende Zweiheit hat ihre Wurzeln in der Jugendzeit — eindrücklich vorgeführt vom Verwalter des umfangreichen Klages-Archivs im Schiller-Nationalmuseum zu Marbach am Neckar, H. E. Schröder, in der „Geschichte seines Lebens“ (Teil I, 1966, Teil II, 1972) —, in welcher er eine enge Freundschaft mit Theodor Lessing pflegte, die sich allerdings später zerschlug. Mit Stefan George hingegen verband Klages nicht allzuviel; dessen poetische Leistuntgen beeindruckten ihn keineswegs; er schätzte ihn einzig als klugen Berater. Umgekehrt aber brachte George Klages die höchste Bewunderung entgegen, weshalb sich dieser auf sein Drängen hin mit Beiträgen zu den „Blättern für die Kunst“ beteiligte.

Das eingangs erwähnte Buch über George diente Klages eigentlich nur als Demonstrationsobjekt, an dem er seine eigene Weltanschauung erstmals exemplifizieren konnte. Dieser Sachverhalt und die Weigerung Klages', weiter für die „Blätter“ zu schreiben, sowie die Kritik an Georges Redaktionspraxis und Meisterkult führten im Jänner 1904 zum Bruch. Klages ist also weder dem „George-Kreis“ zuzuzählen noch maßgeblich von ihm beeinflußt gewesen. Die prägenden Einflüsse rühren vielmehr vom Stabreimdichter Wilhelm Jordan und dem Basler Mutterrechtsforscher Johann Jacob Bachofen, später von den Naturphilosophen der Romantik und Vorsokratik sowie Goethe, Nietzsche und dem Physiker Melchior Palägyi her. Es war daher sinnvoll, daß Klages denn auch 1923 der Nietzsche-Preis und 1932 die Goethe-Medaille verliehen wurden. Damals wohnte er freilich schon in der Schweiz, in Kilchberg am Zürichsee, wohin er während des ersten Weltkrieges übersiedelt war, wo er dann das 1905 in München gegründete „Seminar für Ausdruckskunde“ wieder eröffnete und wo er am 29. Juli 1956 starb.

Basis der Anthropologie von Klages ist, das muß betont und präzisiert werden, nicht der irreführende „kartesische Scheingegensatz von Geist und Körper oder auch Geist und Materie“, sondern „die Einsicht, Leben und Geist seien zwei völlig ursprüngliche und wesensgegensätzliche Mächte, weder aufeinander noch auf ein Drittes zurückführbar“. Insofern sich nun das Leben in der Polarität von Leib und Seele entfaltet, können wir von der „Dreifaltigkeit des geschichtlichen Menschheitscharakters“, nämlich der „Annahme einer dreifachen Substanz des Menschen, des soma (Leib), der psyche (Seele) und des nous (Geist, auch pneuma oder logos zu nennen)“ sprechen. Diese nach Klages vielleicht größte Entdeckung der alten Griechen blühte „in den tiefsinnigen Gedankenträumen der Romantiker“ nochmals auf, „um dann völlig dem Rechenverstand zu erliegen in den Schulpsychologien aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts“. Weder die größten Griechen noch die tiefsten Romantiker vermochten jedoch des Irrtums Herr zu werden, „daß zur Dreiheit das Leben erst sich vollende durch das .höhere' Prinzip des Geistes, dessen Einflüsse aufzunehmen und dem Leibe mitzuteilen die Bestimmung der Seele sei“. Denn: Der Geist ist für Klages weder heilig noch schöpferisch, sondern „ein Störer und Befehder des Lebens“.

Dies ist die einzigartige Position von Klages: Einerseits die unverwechselbare Unterscheidung (nicht aber Trennung) von Leben und Geist und anderseits die Widersachernatur des letzteren. Der Geist ist — wie bei Aristoteles und Schopenhauer — von außenher, als Fremdling ins Leben eingebrochen, mit dem Bestreben, „den Leib zu entseelen, die Seele zu entleiben und dergestalt endlich alles ihm irgend erreichbare Leben zu ertöten“. Das läßt sich im Laufe der Menschheitsgeschichte zwingend nachweisen, und Klages hat es nicht verabsäumt, ein reiches kulturhistorisches und ethnologisches Belegmaterial hiefür zusammenzutragen. Seine Theorie stellt überdies eine äußerst einleuchtende Begründung für die gegenwärtig in aller Munde zerredete Umweltskrise, das heißt die Verschandelung, Ausbeutung und

Vergiftung der Natur dar. Seit seinem Appell „Mensch und Erde“ am Vorabend des ersten Weltkriegs zum Fest der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meissner ist er nicht müde geworden, die Folgen der sich zur absoluten Willkür aufschwingenden Hybris des messenden und berechnenden, also rein analytischen Geistes auszumalen.

Dabei versteht es Klages durchaus zu differenzieren. Obzwar er den Geist als die „Tat an sich“ (den scholastischen actus purus), damit als schlechthin verneinend und deshalb als das schlechthin Böse betrachtet, das es eigentlich abzuschaffen gälte, anerkennt er dessen positive Funktionen, sofern er sich in der Dienstbarkeit des Lebens, der „Wirklichkeit der Bilder“ bewegt. Da der Mensch nun einmal über den Geist verfügt, muß er ihn sinnvoll betätigen, und das heißt, ihn vom Leben als höchstem Wert leiten lassen. Diese Lebensabhängigkeit ist die Sachlichkeit des Denkens. Der aus den Tiefen der Seele gepriesene Wille zur Wahrheit, zum Werk und zur Vollkommenheit ist das einzige, was der Mensch im Guten zu leisten vermag. Das führt zu tiefen Einsichten, nicht zu bloß lernbaren Kenntnissen, zu vollendeten Gebilden, die mit einer Minute lauteren Glücks beschenken, nicht zu Taten, die nur der Profit- und Machtsteigerung dienen wollen. Der menschliche Charakter ist da am reichsten erfüllt von Leben, wenn seine Strebungsrichtung auf Hingabe an das Leben geht. Und solche Selbsthingabe verwirklicht sich unter Leitung der Seele und des von ihr genährten Wesenswillens.

Das bedeutet nun weder einen triebhaften Irrationalismus, noch rauschhaft-mystische Versenkung, sondern „leidenschaftliche Liebe des Lebens“, Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Naturwirklichkeit, Einklang mit den kosmisch pulsenden Mächten, die seit Aeonen das Geschehen der Welt wirken und weben. Wir können das heute besser als vor vierzig oder mehr Jahren nachvollziehen, ist doch die Entfremdung der bald „nachindustrieilen“ Gesellschaft von den „Ursprüngen“, dem „Ewigen“ und „Unendlichen“, manifest geworden.

Wenn Klages den Intellekt als „stoeng sachlich urteilendes Besinnungsvermögen“ schätzt, kann man ihn auch nicht als Anti-Intellektua-listen bezeichnen. Den Schlüssel zum Wesen des Geistes sieht er nämlich gar nicht im Intellekt, sondern im Willen. Dieser ist, indem er sich in selbstherrlicher Manier vom Leben ablöst und mit zweckhaften Taten die Welt zu beherrschen unternimmt, der eigentliche Widersacher des Lebens.

Klages gilt als einsamer Außenseiter. Daher ist es erstaunlich, daß ausgerechnet beim Begründer des „Wiener Kreises“, dem Neopositivi-sten Moritz Schlick (1936 in Wien das Opfer eines Racheaktes geworden), kürzlich eine große Anzahl von Parallelen gefunden werden konnten. Diese bislang übersehene Verwandtschaft reicht von der Unterscheidung zwischen Erlebnis und Bewußtsein bis zum „hinweisenden Denken“. Wer würde es dem Logiker und Erkenntnistheoretiker Schlick zutrauen, daß er den „Sinn des Lebens“ im Jungsein bis zum Tod sieht und deshalb die Herrschaft, ja das Joch der Zwecke und die zunehmende Schrankenbildung um die junge Seele beklagt und demgegenüber Begeisterung (Eros) und Hingabe, die Stärke und Tiefe des Fühlens preist, vom Rhythmus und der ganzen Fülle des Lebens, vom Gestalten eines Werks und der Vollendung im schöpferischen Spiel spricht? Schlick, der in Physik promoviert hatte, prägte selbst den Ausdruck: „Wir sind alle verhinderte Dichter.“ Klages aber ist es gelungen, als „Angelobter des Lebens“ Poesie und Logik zu vereinen. Ein Ereignis der Geistesgeschichte, das bis heute noch nicht genügend gewürdigt wurde.

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