Niemals noch ist in diesem Jahrhundert die ganze Vielfalt der europäischen Lyrik, die Gesamtheit ihrer Ausdrucks- und Formgehalte mit solcher Kraft aufgegriffen worden wie durch Alexander Lernet-Hole-nia. Erstmals ist hier in einem Band das lyrische Gesamtwerk ediert, ein Verdienst von Roman Ro&ek, der in einem 60 Seiten umfassenden Kommentar Werk und Werdegang des Dichters beleuchtet.
Von den antikischen Hymnen, den strengen Versarchitekturen Alkaios und der Sappho über die Klanggeometrie des Sonetts, des Blankverses bis zum Soldatenlied ä la Beranger und dem lässigen Chanson reicht der Bogen. Wird es künftig noch jemand wagen, sich dem Maß dieser Traditionen auszusetzen? Denn, so heißt es in einem Gedicht „An Europa“: „Bevor die Wogen rings zusammenschlagen, wo bleibt, der dich noch rettete, der Held? Wer könnte dich an neue Ufer tragen? Ein neuer Gott in einer neuen Welt.“
Diese Fragen, Schwierigkeiten und Konflikte nicht von sich gewiesen zu haben, bestimmen nicht nur den Rang des Künstlers Lernet-Holenia, sondern die Tiefe seines Lebensernstes. Denn Ziel dieser Dichtungen ist Weisheit, die sich nur dann aus dem Zeugnis der Liebestat und der Freundesgesinnung in Sprache verwandelt, wenn die Sprache mehr bedeutet als Mitteilung. Erst als geistiges Medium der Hingabe ist sie zu solchen Zeilen befähigt: „Alles Geschaffene hat ja / unfertige Ränder / von Schmerzen.“ Dann werden auch die Grenzen zwischen Epochen, Völkern und historischen Ereignissen durchlässig, so daß es gelingt, sie in die
Gleichzeitigkeit hereinzuholen und das Epochenende, dessen sich Ler-net-Holenia deutlicher als andere bewußt ist, in die Zukunft hin wei-terzuverfolgen: „Auch das Endende währt ja immer noch weiter.“
DAS LYRISCHE GESAMTWERK. Von Alexander Lemet-Holenia. Herausgegeben von Roman Rocek. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1989.684 Seiten, öS 476,-.
