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Marxismus als Chance?

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Walbert Bühlmann, Generalsekretär der Missionen des Kapuzinerordens mit dem Hauptsitz in Rom, formulierte es im Bildungshaus Schloß Puchberg bei Wels provokant: Die Kirche ist heute daran, sich zu bekehren. Es scheint eine Gnadenstunde für die Kirche zu sein, daß sie durch den Marxismus gezwungen wird, das zu werden, was sie sein soll: Ferment, Impuls, Hoffnung für alle und Zeichen des Heils.

Die progressiven Thesen des Schweizers, dessen 13. Buch „Wandlungen zum Wesentlichen“ gerade rechtzeitig zum erst kürzlich gefeierten 60. Geburtstag erschien, fanden denn unter den Teilnehmern des Seminars für Führungskräfte der katholischen Entwicklungsförderung nicht nur Zustimmung, sondern auch Widerspruch. Gerade das also, was Bühlmann immer wieder herausfordern will. „Als ich das Buch über die Dritte Kirche schrieb“, sagte er, „rieten mir Fachleute ab, das Thema zu behandeln, weil es zu weitläufig sei. Ich schrieb es trotzdem; einfach deshalb, weil es darum geht, die Lage der Kirche in der Dritten Welt zu rekognoszieren und zum Reagieren der Kirche anzuregen. Denkanstöße zu geben.“ Man müsse, so Bühlmann, ein „ecclesiastical lag“, ein Nachhinken der Kirche um 20 Jahre, vermeiden helfen.

Häufig wird dem Kapuziner, der seit 1952 mit dem Staatschef von Tansania, Julius Niyerere, befreundet ist, seine Nähe zum Marxismus vorgehalten. Bühlmanns Antwort: „Es ist durchaus nicht so, daß ich für den Marxismus Sympathien habe.“ Aber man müsse die neue politische Situation in den Ländern der Dritten Welt einfach zur Kenntnis nehmen. Man müsse von der Tatsache ausgehen, daß der Marxismus in vielen Ländern der Dritten Welt Fortschritte gebracht habe. Und vor allem: Der Marxismus in Afrika befinde sich in einer ganz anderen historischen Situation als der Marxismus in der Sowjetunion, in China oder in Ungarn.

Ziel der Kirche müsse es sein, Afrika zu evangelisieren. Das Heil in einen umfassenden Sinn zu bringen. Die Menschen aus Unwissenheit, Unglauben und Sünde zu befreien.

Daß Bühlmann, der selbst immer wieder betont, daß er mit seinen Äußerungen nicht nur auf dem Boden von „Evangelii nuntiandi“ (vom 8. Dezember 1975) stehe und in völliger Ubereinstimmung mit seinen Oberen handle, in Diskussionen häufig auf Widerspruch stößt, liegt wohl darin, daß er im Marxismus eine Chance für die Kirche sieht Seine Antwort: Oft in der Geschichte sei die Kirche schon in eine Situation hineingestellt worden und habe dann erst zu reagieren begonnen. Die neue Situation für die Kirche sei heute der Vormarsch des Marxismus. Die Kirche als Mysterium habe die Chance, nicht nur zu überleben, sondern sich sogar neu zu entdecken und neu zu beleben.

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