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Mehr Dytsch als Italienisch

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Für den Sommer sind bereits sämtliche Hotelzimmer im Tessin ausgebucht. Auf den Campingplätzen stehen unzählige Wohnwagen und Zelte. Alpensüdseite, Wallis und Engadin — dieser zweite Teil der Wetterkarte im Schweizer Fernsehen hat die Zürcher und Basler, die Lu-zemer und Berner daran erinnert, daß man im Tessin schon lange baden kann.

Etwa 240.000 Einwohner hat dieser einzige überwiegend italienischsprachige Kanton der Schweiz — in Lübeck, einer bescheidenen Großstadt, wohnen ebenso viele Menschen. Seit 170 Jahren ist der Tessin ein gleichberechtigtes Glied der Eidgenossenschaft, seine Grenzen sind noch immer von der Natur vorgeschrieben: nach Mailand und Turin kommt man auch im tiefen Winter mit dem Wagen in zwei und drei Stunden, die ebenso weit wie Mailand entfernte Bundeshauptstadt Bern dagegen ist nur unter beinahe dreifachem Zeit-und Kostenaufwand zu erreichen. Alpensüdseite: was die Deutschschweizer beim Wetterbericht mit Sehnsucht nach Wärme und harmonischer Schönheit erfüllt, ist für die Tessiner noch immer eine harte politische und wirtschaftliche Realität. Erst der Straßentunnel durch den St. Gotthard wird sie wenigstens teilweise von dieser unfreiwilligen Isolierung befreien, nachdem der acht Kilometer lange Tunnel durch den St. Bernhardino bereits seit drei Jahren eine spürbare Annäherung an die Deutschschweiz gebracht hat. Die N 2 im Nationalstraßennetz, deren Rolle als Touristenbringer vom Bodensee über Graubünden und den Tessin nach Italien hierzulande wohl geschätzt, aber keinesfalls überschätzt wird, hat in umgekehrter Richtung für die Tessiner eine innerschweizerische Bedeutung ersten Ranges.

10 Prozent der Bevölkerung, ergab die Volkszählung vom Dezember, sind Deutschschweizer und Deutsche. Sie werden zugleich begrüßt und beargwöhnt. Ihre Steuern haben dem wirtschaftsschwachen Kanton entscheidend auf die Beine geholfen, auch wenn nicht jeder gleich eine Million Franken bezahlt wie Herr Horten auf seinem 4000 Quadratmeter großen Areal in einer kleinen Gemeinde bei Lugano. Die Italianitä aber, die Zugehörigkeit zum lombardischen Kulturerbe, die Wahrung des Profils als südlichster Eckpfeiler eines harten und von der Natur mit mehr Bergen als Bodenschätzen gesegneten Landes: sie wähnt man in Gefahr. In Locarno hört man schon jetzt sommers mehr Schwyzerdytsch und deutsch als italienisch.

Die Wahlbeteiligung im Tessin ist ebenso hoch in kommunalen wie in kantonalen Angelegenheiten. Bei der Abstimmung über das Frauenstimmrecht — das mit einem weit über dem Durchschnitt liegenden Mehr gutgeheißen wurde — lag sie mit an der Spitze. Der Andrang von Tessinern, die früher fast ausnahmslos im nahen Mailand studierten, zu den deutsch- und welschschweizerischen Universitäten hält an. Das Problem ist eher, die Graduierten und Examinierten hinterher in dem industriearmen Kanton unterzubringen. Die traditionelle Auswanderung hat sich verlagert: statt landloser Bauern und auftragsarmer Bildhauer strömen nun Akademiker aus dem Tessin, vor allem in die Welschschweiz. In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß — grob gesagt — eine geschlachtete Kuh keine Milch möhr gibt. Ohne Bild gesprochen: Industrialisierung um jeden Preis würde nicht nur die harmonische Ausgeglichenheit der Landschaft zerstören, sondern einen Großteil der Ferien- und Dauergäste vertreiben und damit einen hohen Prozentsatz des Steueraufkommens preisgeben. Landschafts- und Gewässerschutz dringen langsam, aber unaufhaltsam nach einer Periode stürmischen Aufbaus als wichtigste Aufgabe nach vorn und füllen die Tessiner Zeitungen. Die Natur, karg und verschwenderisch zugleich, schenkt auch im Tessin, dem lieblichen Schmuckstück der Schweiz, nur soviel und solange, als ihr an dankbarer Sorgfalt wiedergegeben wird.

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