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„Mottensack für Ressentiments“

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Kein Thema hat seit Jahren die Schweizer so sehr erhitzt wie die zweite „Überfremdungs-Initiative“ des Nationalrats Schwarzenbach. Was den Initiatoren vorschwebt, ist die völlige Reinigung der Schweiz von den ausländischen Arbeitskräften; lediglich das Pflegepersonal soll davon nicht betroffen werden. Da aber die meisten ausländischen Schwestern verheiratet sind, würden auch sie gehen müssen. Von den fast 700.000 ausländischen Arbeitskräften würde mitten in einer Zeit andauernder Hochkonjunktur nur ein verschwindender Rest übrigbleiben.

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Kein Thema hat seit Jahren die Schweizer so sehr erhitzt wie die zweite „Überfremdungs-Initiative“ des Nationalrats Schwarzenbach. Was den Initiatoren vorschwebt, ist die völlige Reinigung der Schweiz von den ausländischen Arbeitskräften; lediglich das Pflegepersonal soll davon nicht betroffen werden. Da aber die meisten ausländischen Schwestern verheiratet sind, würden auch sie gehen müssen. Von den fast 700.000 ausländischen Arbeitskräften würde mitten in einer Zeit andauernder Hochkonjunktur nur ein verschwindender Rest übrigbleiben.

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Auf den ersten Blick erscheint dieses Begehren, über das die „Furche“ schon einmal berichtet hat, so unsinnig und selbstmörderisch, daß man ihm in einem Land mit ausgeprägtem politischem common sense, wie der Schweiz, am wenigsten zu begegnen erwartet. In der Tat werden von den Initiatoren denn auch weniger politische und wirtschaftliche als gefühlsbetonte Argumente vorgebracht. „Die Schweiz den Schweizern“ — das ist die Formel. Bedenkt man, daß der Schweizer Bürger auf vielen Stufen, von der Gemeinde über den Kanton bis zum Bund, an der politischen Willensbildung beteiligt ist, ermißt man erst die Tragweite der Parole. Keine Schulen mehr für halbe Analphabeten bauen müssen, keine Wohnungen, Kindergärten und Spitalsplätze bereitstellen, keine überfüllten Züge mit Bergen von Kartons und Koffern, keine dramatischen Eifersuchtsszenen um fremde Frauen — plötzlich werden unterschwellig alle Übel der Uber-fremdung ins Bewußtsein gebracht. Die Schweiz wieder den Schweizern! Diese Parole zündet mit ihrem nationalen Pathos in unzähligen Herzen, und die Gegner der Initiative haben alle Hände voll zu tun, um den Docht der Leidenschaften zurückzuschrauben und die ruhige Flamme der Vernunft wieder zum Vorschein zu bringen. Von den Gewerkschaften bis zu den Unternehmern, von den Kirchen bis zu den Parteien ist man sich einig: die Initiative muß abgelehnt werden.

Für die Schweizerische Wirtschaft wäre die Begrenzung der Gastarbeiter auf 10 Prozent des jeweiligen betrieblichen Personalstandes ein tödlicher Aderlaß, das steht außer Frage.

Zwei Beispiele: Die Gießerei Sulzer, neben BBC einer der Giganten der Maschinenindustrde, beschäftigt 95 Prozent Ausländer. Im Tessin, mit einer Gesamteinwohnerzahl von gut 200.000 Menschen, arbeiteten im August vorigen Jahres 50.000 Italiener, von denen 40 Prozent Grenzgänger waren. Im Kanton Genf ist es nicht viel anders. Natürlich würde bei einer Schließung zahlloser Betriebe die gesamte Volkswirtschaft ins Wanken geraten und eine Unzahl von Schweizern gleichfalls brotlos werden, deren Arbeit in den Dienstleistungsbetrieben direkt oder indirekt durch die Gastarbeiter mit gewährleistet wird. Das gemeinsame Interesse von Unternehmern und Gewerkschaften liegt also auf der Hand und ist durchaus keine finstere Verschwörung.

Im Nationalrat und Ständerat, den beiden Schweizer Parlamenten, war bei den Abstimmungen außer

Schwarzenbach selbst kein Befürworter der Initiative zu finden. Trotzdem muß sie, nach Schweizer Gesetz, dem Volk vorgelegt werden. Die Bundesregierung in Bern hat aber das ihrige getan, um Schwarzenbachs Vorwürfe gegenstandslos zu machen. Am 20. März 1970 wurden „Maßnahmen zur Stabilisierung des Ausländerbestandes“ zum bindenden Gesetz erhoben. Bereits in den letzten Jahren wurde den Kantonen auferlegt, sukzessive den Zuzug neuer Ausländer zu unterbinden und die Zahl der Gastarbeiter betriebsweise zu vermindern — sehr viel Erfolg war diesen Maßnahmen nicht beschieden. Jetzt haben die eidgenössischen Gesetzgeber eine generelle Zuzugsperre verhängt, lediglich einige Tausend Neuankömmlinge dürfen noch die Plätze von Abgängern besetzen. Schon däase restriktiven Verordnungen stürzen zahllose Betriebe in Schwierigkeiten: Aufenthalter werden in Grenzgänger „umfunktioniert“, Wohnhäuser werden an den Grenzen gekauft und diplomatische Demarchen der italienischen Regierung haben nicht auf sich warten lassen. Aber jeder Einsichtige begreift, daß irgendwo die obere Grenze des Zuzugs von Ausländern in ein relativ kleines Land sein muß.

„Die Schweiz, deren Neutralität der ganzen Welt zum Vorbild werden könnte, droht angesichts der Schwarzenbach-Initiative zum Mottensack für Ressentiments gegen alles Neue und Ungewohnte zu werden.“ So ist in der neuesten Nummer der angesehenen Zeitschrift „Reformatio“ zu lesen. Auch so einfache Tatsachen wie die, daß ein Süddeutscher in der Ostschweiz weniger fremd ist als ein Berner im Tessin, dürfen nicht vergessen werden. Und was es um die vielberufene schweizerische Eigenart ist, konnte auch Schwarzenbach bisher nicht hinreichend definieren. Auf jeden Fall hat das Bocciaspielen das Jassen noch nicht verdrängt, die Jagd auf Singvögel wird weiter verabscheut, und der Stierkampf hat keine Chance, schweizerischer Nationalsport zu werden.

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