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Mit verhaltener Stimme

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Anna Seghers muß man vorstellen, denn sie ist eine hierzulande fast unbekannte Autorin. Sie wurde in Mainz geboren, ist so alt wie dieses Jahrhundert und hat alle seine Schrecken und Leiden mitfühlend erlebt. Ihr menschliches und politisches Engagement für die Armen, Unterdrückten, Verfolgten und Entrechteten war von ähnlicher Art wie das der großen Malerin und Zeichnerin Käthe Kallwitz, mit der sie auch sonst viele gemeinsame Züge hat. 1933 emigrierte Anna Seghers nach Frankreich, wo sie bis 1941 blieb. In Paris schrieb sie ihr bedeutendstes und erfolgreichstes Buch, „Das siebte Kreuz“, das, in mehrere Sprachen übersetzt, eine Millionenauflage erreichte und erst nach dem Krieg in Deutschland erscheinen konnte. Von Frankreich ging sie nach Mexiko und kehrte 1947 nach Deutschland zurück, und zwar in die DDR. Dort lebt sie seither, und zwar in Ost-Berlin.

In dem vorliegenden Band sind, chronologisch geordnet, zehn Erzählungen aus den Jahren 1926 bis 1945 vereinigt. In diesen 20 Jahren hat sich der Stil von Anna Seghers nicht geändert — und auch in dieser Hinsicht könnte man eine Parallele zu Käthe Kallwitz ziehen — so verschieden die Themen dieser Erzählungen untereinander auch sein mögen. Die Geschichten von armen Menschen, traurigen Schicksalen, tragischen Verwicklungen werden mit verhaltener Stimme, in einer eigenwilligen Sprache erzählt. „Was ist das, ein Unglück? dachte Anna“', so lesen wir gleich in der ersten Geschichte vom Grubetsch auf der dritten Seite. „Ist es wie der Höf dort unten und wie das Zimmer dort hinten? Oder gibt es auch noch andere Unglücke? Rote, glühende, leuchtende Unglücke? Ach, wenn ich so eines haben könnte!“

Am charakteristischesten zeigt sich die Thematik und die Erzählkunst der Anna Seghers in „Der Ausflug der toten Mädchen“, wenn sie die teils traurigen, teils schrecklichen Schicksale von einigen Schülerinnen schildert, mit denen sie vor vielen Jahren einmal einen Ausflug machte. In „Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaßt“ erfahren wir, was die gegen die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti Demonstrierenden denken. Wir ersehen daraus aber auch, daß bereits in den Jahren 1929/30 Amerika der Prügelknabe aufgeklärter und liberaler Westler gewesen ist. i- Dazwischen stehen zwei sehr gegensätzliche Aufzeichnungen von Sagen: jene vom Räuber Woynok und die von Artemis. (Erstere lassen sich leicht in Rumänien lokalisieren, denn das Bor-moschtal ist wohl das des Maramu-resch, Doroboth steht für Dorobants und Prutka für Pruth). Den Beschluß bildet eine jener. Geschichten aus dem KZ und der ersten Nachkriegszeit, mit denen Anna Seghers bekannt wurde. Ihr Titel ist „Das Ende“, ihr Inhalt: das Schicksal des KZ-Schinders Zillich, genannt „das Schweinsohr“, der nach Kriegsende versucht, unterzutauchen.

Wir erwähnten eingangs sprachliche Eigenwilligkeiten. Oft überliest man sie, aber ab und zu bleibt das Auge an etwas hängen und das Sprachgefühl meldet Protest: „Der Wiener Familie kam die Abfahrt verwunderlich, doch nicht ungeschickt.“ Oder: „Die folgenden Tage verliefen für alle höchst aufgemuntert.“ Oder: „Er hatte wenig Bewußtsein von der Länge und Man-nigfalt des Lebens.“ Auch verwechselt die Seghers das Zeitwort „schlürfen“ mit „umherschlurfen“ und schreibt „schlürft“ statt „schlurft“.

Doch das sind kleine Schönheitsfehler, vielleicht nur auf Flüchtigkeit der Autorin oder der Korrektoren zurückzuführen. — Sehr stark wirkt in allem, Was Anna Seghers schreibt, ein schwermütiger lyrischer Zauber, und auch bei der Schilderung des Schrecklichen bleibt ihre Stimme beherrscht, gedämpft. In anderen, besseren Zeiten hätte die Seghers uns ganz andere Geschichten geschenkt. Sie selbst begründet einmal den spezifischen Inhalt ihrer Erzählungen: „Man erfährt ja nur, was die Menschen erregt, nie, was sie zum Verstummen gebracht.“

ERZAHLUNGEN. Von Anna Seghers. Luchterhand-Verlag. Band 1. 334 Seiten.

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