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Stücke, die einst faszinierten - faszinieren sie noch? „Die Irre von Chaillot” von Jean Giraudoux aus dem Jahr 1943, vor nicht ganz dreißig Jahren in Wien erstmals zu sehen, wurde damals als eines der wichtigsten Stücke unserer (damaligen) Zeit bezeichnet. Hat es auch beute Entscheidendes zu geben? Der Übersetzer H. C. Artmann verlegte den Schauplatz aus Paris nach Wien, anno 1930, und reduzierte den Titel auf „Die Irre”. In dieser Fassung wird das Werk in der Josef- stadt gespielt.

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Stücke, die einst faszinierten - faszinieren sie noch? „Die Irre von Chaillot” von Jean Giraudoux aus dem Jahr 1943, vor nicht ganz dreißig Jahren in Wien erstmals zu sehen, wurde damals als eines der wichtigsten Stücke unserer (damaligen) Zeit bezeichnet. Hat es auch beute Entscheidendes zu geben? Der Übersetzer H. C. Artmann verlegte den Schauplatz aus Paris nach Wien, anno 1930, und reduzierte den Titel auf „Die Irre”. In dieser Fassung wird das Werk in der Josef- stadt gespielt.

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Eine phantasievolle Parabel, ein Märchen vom Sinn des Guten. Aurelie, die Irre vom Ring, ist der Liebling der kleinen Leute. Kellner, Tellerwäscherin, Straßensänger, Lumpensammler, Kanalräumer gruppieren sich um sie. Sie beschließt mit drei anderen alten Närrinnen unter dem Beifall dieser Leute, die Welt von den Präsidenten, Managern, Prospektoren, den Profitgierigen, den Ausbeutern zu befreien, die Wien zerstören wollen, um unter der Innenstadt Erdöl zu gewinnen. Sie lockt den menschlichen Abschaum in den Keller ihres Hauses, wo es einen Einstieg ins unterirdische Wien, zu den „Ölvorkommen”, gibt. Der Einstieg wird verschlossen und die Profitgierigen müssen da unten zugrunde gehen.

So einfach ist das. Die Welt wird von den Bösen befreit und in ein Paradies verwandelt. Das hat, wie es Giraudoux darbietet, poetischen Reiz. Aber ist da die Naivität nicht doch etwas zu weit getrieben? Die Menschen werden kurzerhand in die Guten und die zu tötenden Bösen eingeteilt. Wer bestimmt, wer zu welchen gehört? Wollte Giraudoux dieses Urteil, indem er es vier irren Frauen überläßt, desavouieren? Keineswegs, das Stück endet fast apo- theotisch. Gewissermaßen: Nur die Irren finden den richtigen Weg. Merkte Giraudoux nicht, daß ihre Methode die der totalitären Staatsmänner ist, die so viel Unheil über die Welt brachten, indem sie bestimmten, wer als „böse” zu vernichten war? Sind alle Guten nur gut und alle Bösen nur böse? Dürfen Märchen in Grundfragen so naiv sein? In heute geradezu peinigend aktuellen Fragen?

Die Verlagerung nach Wien, in bekannte Stadtteile und Gassen, mit wienerischen Derbheiten und Anzüglichkeiten im Hinblick auf heutige kommunale Mängel (Karlsplatz), sitzt auf dem Stück wie ein schlotterig unpassendes Gewand. Die Wirkung wird gewaltsam verringert. Was noch an poetisch Märchenhaftem geblieben wäre, treibt Regisseur Bernhard Wicki den Szenen völlig aus. Die Richtung zeigt das Bühnenbild von Erich Wander an: asketische Kälte, Leere, diametral dem Stück entgegen. Joana Maria Gorvin ist eine Irre von beeindruk- kender Persönlichkeit, nur spürt man das Irre zu wenig. Reizvoll charakterisieren Adrienne Gessner, Lotte Lang und Erni Mangold die anderen drei Närrinnen. Erik Frey gibt dem Präsidenten Format, Heinz Marecek dem Lumpensammler Temperament. Birgit Doll ist eine anspruchslos nette Tellerwäscherin. Gewaltiges Aufgebot an weiteren Darstellern.

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