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Völkermord auf der Jute-Börse

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In Bangla-Desh zeigt es sich: Eine Armee kann besiegt werden, selbst wenn sie von China und von den USA unterstützt wird.

Bangla-Desh lernt nun: Hat man China und die USA zum Gegner, so bleibt man auf den Marktplätzen der Weltmeinung ohne Hoffnung.

Bis Ende Dezember des vergangenen Jahres flössen Zeitungen und Fernsehschirme von Schilderungen des bitteren Sterbens der Ostbengalen über. Einige Wochen nach der Gründung des neuen Staates wurde es um Bangla-Desh still. Erst im späten Frühling begannen sich die Zeitungen wieder mit Bangla-Desh zu befassen; der „Spiegel“ leitete die neue Runde ein: als Reportage getarnt, ein unkritisches Interview mit dem Führer einer der zahlreichen Fraktionen des Marxismus-Leninismus. Der „Spiegel“-Reportage folgte ein intensives Bangla-Desh-Cove-rage in allen Zeitungen. Jetzt wurde gefragt — und die Fragen waren schon Vorhersage und Anklage: Wird Bangla-Desh den Monsun überleben? Steht Bangla-Desh vor einem Völkermord?

Mißwirtschaft, Korruption, politisches Dilettantentum und Bandenwesen wurden festgestellt: Das sei das Bangla-Desh von heute. Selten erinnerten sich die Berichterstatter: Bangla-Desh ist acht Monate alt. Ministerpräsident Scheich Mujibur Rahman kam vor sieben Monaten aus pakistanischer Gefangenschaft zurück. Der pakistanische Nachlaß war Tod, Zerstörung, Haß. •

Der Monsun liegt jetzt über dem Land. Als ich in Bangla-Desh war, fürchtete jeder die kommende Regenzeit. Ein Monsun kann gute Ernte bringen oder Zerstörung. Den Ostbengalen brachte der Monsun von 1970 die Springflut, 1971 brachte er das Kriegsrecht des Tikka Khan. In diesem Jahr hat Bangla-Desh Glück. Es herrscht ein Monsun, der die Reisfelder bewässert und nicht überflutet. In Westbengalen spricht man neidvoll von Ostbengalen. Ostbengalen sei ein grünes Land. Fast könnte es sich selbst ernähren. Das haben in den vergangenen Jahren die Ostbengalen selbst vergessen.

Mit dem Ende der Regenzeit geht das erste Lebensjahr von Bangla-Desh langsam zur Neige. Keine Hungersnot ist ausgebrochen, kein Massaker. Das ist eine beachtliche Leistung für einen Staat, entstanden aus Partisanenkampf und Krieg, mit dem Kontostand Null und mit einer zertrümmerten Wirtschaft, nicht abtransportierbaren Exportgütern, keiner Währung und keinen Devisen — aber mit einer Minorität, die feindlicher war als der Feind — den Biharis.

Am letzten Tage des Krieges befand ich mich in Chittagong. Das war auch der erste Tag im Leben von Bangla-Desh. Am Tag der Rückkehr Mujibur Rahmans aus der Gefangenschaft befand ich mich in Dakka; das war der wahre Gründungstag von Bangla-Desh. Die vier Wochen zwischen dem Kriegsende und der Rückkehr Mujiburs waren Euphorie und Chaos. Der Hafen von Chittagong schien in Hoffnungslosigkeit abgesackt zu sein. Was an Lagerraum nicht zerstört war, hatte man mit Jute' vollgestopft. Auf dem Weg von Chittagong nach Dakka war keine einzige Brücke passierbar — und Bangla-Desh ist das Land der unzähligen Wasserarme. Die Menschen in Dakka lebten in einem Rausch des Uberstehens und von der Schilderung erlittener Schrecknisse.

Mujibur Rahmans Rückkehr war sein außenpolitisches Programm. Von Islamabad nach London transportiert, bestieg er für die Rückreise nach Dakka eine englische Militärmaschine. Er weigerte sich, umzusteigen, als man ihm in Delhi eine indische anbot. Dank an den Nachbarn, der geholfen hat und noch viel helfen muß — aber dennoch Sicherheitsdistanz. Seine Ankunft in Dakka war ein innenpolitisches Programm: Auf einer Massenkundgebung unmittelbar nach seiner Ankunft verwarf er das vorbereitete Konzept einer Präsidialdemokratie. Er lehnte die Autorität eines Präsidenten nach dem Vorbild der USA-Verfassung ab und übernahm die Verantwortung eines Ministerpräsidenten englischer oder deutscher Prägung. Mujibur Rah-man ist der einzige Führer einer nationalen Revolution, der Ausgeglichenheit und Menschlichkeit ausstrählt. Seine Ausgeglichenheit teilte sich dem Land mit und überwand Gier und Hektik der Emigrations-Minister. Vorderhand.

Seine Ausgeglichenheit war kein Ersatz für die fehlenden Güter und für integre Mitarbeiter. Materielle und politische Stärkung mußte von außen kommen. Von auswärts waren nur Vertreter der Ostblockstaaten anwesend. Diese allerdings reichten einander die Türschnallen. Der offizielle Westen fehlte. Vom inoffiziellen war Hans Janitschek zur Stelle, der Generalsekretär der Sozialistischen Internationale. Er hatte die Situation erkannt und war sehr präsent. Er wog viel von dem auf, was der offizielle Westen unterlassen hatte. Gegen die protokollarische und quantitative Übermacht der Ostblockstaaten, schwamm er stromaufwärts.

Nur wenige Wochen nach der Ankunft des Scheich traf der erste offizielle Besuch in Dakka ein: Doktor Winzer, Außenminister der DDR. Am selben Tag sagte mir der Scheik: „Ich bin ein klassischer Sozialdemokrat, vor allem und mit allem, was ich tat.“

Vom ersten Tag an stand Mujiburs Regierung zwei Sicherheitsproblemen gegenüber: Mukti Bahini, die arbeitslos gewordenen Partisanen, und die Biharis, die feindliche Minorität. In und rund um Bangla-Desh dachten alle, der Tag des Abzuges der indischen Armee werde für die Mukti Bahini der Tag der unbegrenzten Möglichkeiten sein, für die Biharis der Todestag. Die indische Armee ist längst abgezogen. Die Mukti Bahini sind jetzt eine Mischung aus jugendlichen Veteranen und Pfadfindern. Die Biharis leben noch. Sie stellen eine Minderheit von ungefähr 10 Prozent dar und das scheint überall für Minderheiten der kritische Prozentsatz zu sein. Sie sind strenggläubige Muslim und während der Religionsmassaker aus Indien eingewandert. Sie gebrauchen inmitten einer Bengali sprechenden Bevölkerung das Urdu. Der Sprachenkonflikt „Bengale oder Urdu“ war der Ausgangspunkt des Zerwürfnisses zwischen West- und Ostpakistan. Die Biharis sprechen die Sprache der Herren von gestern, des „Feindes“. Zum „Feinde“ zählen sie sich auch. Die Terrororganisationen der pakistanischen Armee bestanden fast zur Gänze aus Bihari. Dennoch leben sie noch; auf einem Kontinent und in einer Zeit der Lösung von Minoritätenproblemen durch Vernichtung, ist das eine Leistung des neuen Staates und eine Leistung des Scheiks.

Die Bihari sind eingepfercht in enge Viertel. In der Stadt Mirpur, die eine Bihari-Stadt geworden ist, sprach ich mit dem Bihari-Arzt. Der war sicher die Ausnahme und kein Terrorist gewesen. Er sagte: „Die Endlösung ist noch nicht abgewendet. Kann einer sie abwenden, so ist es der Scheik.“ Verläßt einer das Bihari-Viertel, ist es ein Gang durch das Tigergehege. Nahrungsmittel sind nur unter dem Minimum vorhanden. Bangla-Desh will nicht diese Esser mitfüttem. Doch niemand außerhalb von Bangla-Desh will sie haben; schon gar nicht Pakistan. So gibt es also immer noch die Möglichkeit, daß das Bihari-Problem „zeitgemäß“ gelöst wird und der dringend benötigte Wohnraum in Manipur den Bengalen zur Verfügung gestellt wird ... !

Erfolgt eine Liquidierung des Problems durch die „Liquidierung“ der Bihari, dann geschieht dies voll und ganz unter der Verantwortung der Bangla-Desh-Regierung. Doch jeder Tag, der heute gewonnen wird, ist ein Verdienst des Scheik.

Korruption und Unfähigkeit der Mitarbeiter Mujiburs gefährden den Staat. Die Gier des Westens gefährdet die Biharis. Wenn von Völkermord gesprochen wird, trifft es die Jutebörse in London. Die Lebensmittel aus dem Ausland können im Hafen von Chittagong nicht gelagert werden. Sie verfaulen neben prallgefüllten Lagerhäusern. In den Lagerräumen liegt die Jute. Als Bangla-Desh entstand, lag der Weltmarktpreis für Rohjute bei 210 Dollar. Die Börse in London zeigte sich „zurückhaltend“. Die Börse rechnet damit, daß in der höchsten Not Bangla-Desh die Rohjute um jeden Preis wird verkaufen müssen. Jetzt kostet Jute nur noch 155 Pfund ...

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