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Was vom „Genscherismus" bleibt

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Was vom derzeitigen Papst gesagt wird, der liebe Gott ist überall und Johannes Paul II. war schon dort, gilt seit fast zwei Jahrzehnten für Deutschlands Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Bezeichnend der Scherz, der von zwei Flugzeugen handelt, die über dem Atlantik zusammenstoßen - in beiden soll Genscher gesessen sein.

Genscher ist als Politiker nicht abgestürzt. Er, der Politik in der Demokratie als „Übernahme von Verantwortung auf Zeit" definierte, hat jetzt seinen Rücktritt als Leiter des Bonner Außenamtes mit 17. Mai - exakt 18 Jahre, nachdem er dieses Amt übernommen hatte (und nach fast 23 Jahren als Mitglied der Bundesregierung) - bekanntgegeben.

Die größte Wertschätzung genießt Genscher zu Hause. Briten und Amerikaner haben ihm das Eingehen auf Michail Gorbatschows Politik des „Neuen Denkens", dessen Vorkämpfer Genscher in der westlichen Welt schließlich wurde, lange Zeit übelgenommen. „Genscherismus" wurde in der anglo-amerikanischen Welt fast zum Schimpfwort. Trotz alter Rapallo-Ängste der Westmächte - was gab's da nicht an Warnungen vor einer russisch-deutschen Kooperation! - setzte Genscher auf die Gunst der Stunde für Deutschland: Und sie schlug bei der Unterzeichnung des Zwei-plus-vier-Vertrages in Moskau, der die Vereinigung der beiden Nachkriegs-Deutschländer besiegelte.

Was Genscher mitzugestalten versagt blieb, wohl auch geblieben wäre, wenn der vor kurzem 65 gewordene FDP-Politiker noch länger amtiert hätte, ist die von ihm angestrebte europäische Friedensordnung, die im KSZE-Prozeß vorgezeichnet ist. Der Europäer im besten Sinn mußte erkennen, daß das EG-Europa nicht immer europäisch denkt. Desgleichen sind auch Genschers Beschwörungen der Solidarität mit der Dritten Welt eher Worthülsen geblieben.

„Genscherismus", so scheußlich der Begriff auch ist, steht für eine neue Qualität in der (Außen)Politik, sie heißt Kraft der Überzeugung - im Jugoslawienkonflikt hat Genscher diese Kraft zum letzten Mal zu aktivieren versucht.

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