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Der Bettler

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Gestern traf ich auf den Bettler. Er schnitt ein so bemitleidenswertes Gesicht, daß ich ihn auf ein Glas Wein einlud.

Er ließ sich nicht zweimal bitten, und als er ausgetrunken hatte, versäumte er nicht, mir seine Geschichte zu erzählen. Wie er früher als angesehener, wohlhabender Bürger in der Stadt gelebt hatte, bis ein Kurssturz seiner Aktien ihn über Nacht um sein Vermögen brachte; wie eine gräßliche Seuche seine vielköpfige Familie dahinraffte; wie er im Kriege sein Auge für Gott, Führer und Vaterland opferte.

„Du bist wahrlich wie Hiob geschlagen worden!" rief ich erschütternd aus. „Du verdienst das Mitleid der ganzen Welt!" Ich ließ noch eine Flasche Wein bringen.

Und darnach noch eine.

Nun erst fand der Bettler mich würdig genug, sein Geheimnis zu erfahren.

„Bruder Wohltäter“, lallte er mit schwerer Zunge, „du glaubst doch nicht den ganzen Quatsch, den ich dir vorhin auftischte? Alles purer Schwindel! Geschäftstrick! — In Wirklichkeit ist nichts aus mir geworden, weil ich schon in der Schule nichts taugte. Ich bin immer ein armer Schlucker gewesen! Und mein Auge hat mir so ein Rotzbub mit seiner Schleuder .ausgeschlagen …! Aber glaubst du, daß für die Wahrheit eine Menschenseele auf der Welt auch nur einen einzigen Groschen opfern würde?“

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