Schulfrei für die Jagd

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Das Eigene bewahren, sich trotzdem nicht vor der Welt verschließen. Der Lebenszeichen-Kalender 2003 widmet sich dieser Problematik indigener Völker.

Allein die Holzkonstruktion eines Kajaks überreichten grönländische Politiker jenen dänischen Wissenschaftern, die der grönländischen Sprache jede Zukunft abgesprochen hatten. "Hier sieht man, wie Grönland aussieht, wenn wir unserer Sprache beraubt werden", erklärten sie den verblüfften Sprachexperten. Grönland ohne eigene Sprache war für die Grönländer wie ein Kajak ohne Bespannung, wie ein Skelett ohne Haut. Dieser anschauliche Protest Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zeitigte Erfolg. 1979 erhielten die rund 50.000 grönländischen Inuit weitgehende politische Autonomie innerhalb des dänischen Königreichs und damit auch die Kontrolle über ihr Schulsystem. Mittlerweile ist das Westgrönländische (Kalaallisut) Unterrichtssprache in Grönlands Schulen. Dänisch, das den Zugang zu einer Universität ermöglicht, wird heute in Grönland als erste und Englisch als zweite Fremdsprache verpflichtend unterrichtet.

Spagat zwischen den Welten

Mit diesem positiven Beispiel beschließt der Kalender "Lebenszeichen 2003" der Gesellschaft für bedrohte Völker seine Rundschau über Bildungskonzepte und Erziehungssysteme indigener Völker und ethnischer Minderheiten. Und mit dem Bild dreier Inuit-Mädchen von der arktischen Holman Insel lässt der eindrucksvoll gestaltete Kalender das nächste Jahr ausklingen. Davor erfährt man jedoch über elf Monate hinweg, mit welchen Bildungsproblemen an den Rand gedrängte Völker zu kämpfen haben. Wie gelingt es diesen Minderheiten ihre facettenreiche Palette an unterschiedlichstem, zum Teil uraltem Wissen zu pflegen? Inwieweit können und wollen sich viele Völker heute den Erziehungsmodellen der Industriegesellschaften verschließen? Und wie kann - vor allem von der Jugend - der Spagat zwischen den Welten gemeistert werden?

Dass von diesen Schwierigkeiten nicht nur Tausende, sondern Millionen Menschen betroffen sein können, beweist das Beispiel der indischen Adivasi. Knapp acht Prozent der Gesamtbevölkerung Indiens zählen heute die Nachfahren der Adivasi, der "ersten Siedler" bzw. Ureinwohner der Region. Das sind fast 80 Millionen Menschen und Indien weist damit die größte indigene Bevölkerung unter allen Staaten der Welt auf.

"Zivilisierung der Wilden"

Trotz formeller und von der Verfassung garantierter Rechte nennt der Lebenszeichen-Kalender das Ziel der indischen Minderheitenpolitik: "Die Integration der Adivasi in den Hauptstrom der Gesellschaft, ein Kulturwandel also, der von einigen AkteurInnen unverbrämt als Zivilisierung der Wilden gepriesen wird." Kulturschock, Entfremdung, hohe Schulabbrecherquote, Rückzug aus dem öffentlichen Leben, Isolation und Verarmung sind die Folge.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker bleibt in ihrem Bildkalender aber nicht bei der Analyse elender Zustände stehen. Jede Beschreibung dieser oder jener Minderheit verweist auf zukunftsträchtige Initiativen, die spezielle Ausbildungprogramme für die jeweiligen Bedürfnisse anbieten und einer "Pädagogik für sozialen Wandel" zum Durchbruch verhelfen wollen.

Mikronesier in der Südsee, Roma in Südosteuropa, Native Americans in den USA sowie die indigenen Gemeinschaften auf Kamtschaka, der Halbinsel im fernen Osten Russlands, nicht zu vergessen die Indianer in Panama und die Bewohner verschiedener Inseln im Titicaca-See - ein Jahr mit seinen zwölf Monaten ist eindeutig zu kurz, um der Vielfalt indigenen Lebens auf dieser Welt gerecht zu werden. Andererseits sind die Bilder des Lebenszeichen-Kalenders so betörend schön, so prächtig, so farbenfroh, ein richtiger Wandschmuck, dass man sie mindestens jeweils ein Monat lang aufgehängt lassen muss. Der Autor dieser Zeilen kennt sogar Fans dieser Kunstwerke, die sich auch im neuen Jahr nicht vom alten Kalender trennen können und wieder von vorne zu blättern beginnen.

Das hat freilich den Nachteil, dass man nie etwas über die nördlichste Schule der Welt lesen wird, geschweige denn darüber, was Inuit-Schüler machen, wenn ihre Eltern auf Jagdreise gehen. Deswegen, am besten den neuen Kalender neben den alten hängen, irgendwann wird eine ganze Lebenszeichen-Wand daraus.

Lebenszeichen 2003

Kalender zum Thema: Erziehung und Bildung bei bedrohten Völkern. Hg. von der Gesellschaft für bedrohte Völker, e 16,50 (zuzüglich e 3,30 Versandspesen),

Bestellungen an: GfbV, 1030 Wien, Untere Viaduktg. 53/7A, Tel: 01/503 13 36, E-Mail: gfbv.austria@chello.at

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